Beiß mich, wenn du dich traust
Angst.
Wir warten mit angehaltenem Atem, hören aber nichts mehr außer Stille. Ich sehe Sunny achsel-zuckend an und wende mich wieder dem Weg zu.
Jedenfalls ist es jetzt zu spät, um umzukehren.
Doch einen Moment später ertönt ein anderes Geräusch - ein tiefes Knurren, irgendwo links von uns. Sunny starrt mich mit irren, angstvollen Augen an. »Was war das?«, wispert sie.
Ich schüttele den Kopf, schiebe eine Hand in die Tasche und greife nach dem Pflock, den sie mir zusammen mit den Einschulungspapieren fürs Achtal gegeben haben. Dabei ist mir schleierhaft, was ich eigentlich mit so einem kleinen geschnitzten Holzstück gegen einen großen, hungrigen Wolf oder Bären ausrichten will. Mein Herz hämmert vor Panik, als ich den Lichtstrahl in den Wald richte. Vielleicht wird er das Wesen verscheuchen . . .
Auf einmal werde ich von hinten gepackt. Ich schreie, aber meine Stimme wird mit einem stinkenden Lumpen, den man mir in den Mund stopft, erstickt und jemand zieht mir eine schwarze Kapuze über den Kopf. Zwei Hände fassen mich an den Schultern, zwei weitere an den Knöcheln. Ich trete um mich, so fest ich kann, aber die Angreifer sind zu stark.
Dann merke ich, dass auch meine Schwester hinter mir um sich schlägt. Oh nein - wer immer das ist, sie haben Sunny ebenfalls geschnappt.
Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt, bleiben unsere Entführer stehen und ich werde unsanft auf den Boden geworfen, wobei mein Hintern auf harten Stein kracht. Ich rieche etwas. Etwas wie . . . verkohltes Fleisch.
Die Kapuze wird mir von den Augen gerissen und der Knebel aus dem Mund gezogen. Ich sehe auf und erblicke die funkelnden Augen der ...
Alphas.
Genauer gesagt, die Augen der sich krumm-und schieflachenden Alphas.
»Oh Mann, wir haben euch erwischt!«, kräht Varuka und hält Mara die Hand zum High Five hin. Leanna vollführt einen kleinen Tanz ums Lagerfeuer herum, während Peter sich daran-macht, meine Schwester loszubinden.
»Ihr hättet eure Gesichter sehen sollen!«, ruft Mara. »Ihr hattet total Schiss.«
»Was dachtet ihr denn, wer wir sind?«, fragt Leanna hämisch. »Der schwarze Mann persönlich?«
Zu meiner ausgesprochenen Verärgerung ist es Corbins Gesicht, das am meisten vor Schaden-freude strahlt. »Hm«, macht er. »Vielleicht bist du doch nicht so tapfer, wie du immer tust, kleine Jägerin?«
Meine inzwischen befreite Schwester springt auf die Beine, ihre Augen sprühen vor Zorn. »Wie könnt ihr es wagen?«, schreit sie die Gruppe an.
»Wie konntet ihr so was ... ?« Sie verstummt plötzlich und mir wird klar, dass sie den Tränen nah ist. Ich kann ihr das nicht verübeln. Auch ich zittere noch am ganzen Körper, aufgeputscht von Angst und Adrenalin. Ich kämpfe mich ebenfalls auf die Füße und gehe über den Lagerplatz zu ihr hin, dann werfe ich Corbin meinen tödlichsten Rayne-Todesblick zu.
»Toll«, knurre ich. »Superidee.«
»Was denn?«, sagt er und hebt mit gespielter Unschuld die Hände. »Ihr hattet doch Glück, dass wir es waren und nicht die Wachpatrouille. Ich meine, mal ehrlich, ihr zwei wart nicht besonders geschickt, wie ihr da durch den Wald getrampelt seid. Wir haben euch schon aus einem Kilometer Entfernung gehört und euer Licht gesehen. Und wenn die Schulwachen euch geschnappt hätten, wäre der Teufel los gewesen.« Er grinst mir fies entgegen. »Wir haben euch vor einem Schicksal bewahrt, das schlimmer ist als der Tod, wenn ihr die Wahrheit wissen wollt. Ihr solltet euch bei mir bedanken.«
Ich runzele finster die Stirn. »Schön, dann tut uns beim nächsten Mal bitte keinen Gefallen, okay?«
»Ach, seid uns nicht böse!«, bettelt Peter, der offensichtlich bester Laune ist. Er kommt auf mich zugetänzelt und legt mir spielerisch einen Arm um die Schultern. Ich schüttele ihn ab.
»Bleibt noch ein bisschen. Wir haben Bier und Hamburger.«
»Ja, bitte bleibt!«, summt Mara mit ein. »Ich habe viel zu viel zu essen gemacht - selbst wenn man den Appetit der Jungen mit berechnet.«
»Ihr könnt jetzt sowieso nicht zurück«, wirft Leanna dazwischen. »Die Patrouille würde euch mit Sicherheit abfangen. Ihr werdet mindestens bis zwei Uhr früh ausharren müssen. Danach hält Johan immer sein Zwanzig-Minuten-Nickerchen.«
Ich will gerade erwidern, dass Johan sich sein Zwanzig-Minuten-Nickerchen sonst wohin stecken kann, aber plötzlich mischt sich Sunny ein. »Okay. Wir bleiben«, sagt sie, löst sich von mir und hockt sich auf einen der Baumklötze.
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