Beiss noch einmal mit Gefuehl
ich war einfach nur traurig. „Pass bloß auf, dass du nicht richtig draufgehst!“, sagte ich zu ihr.
„Kraa. Kraa.“
Die Krähe, die auf der nächsten Straßenlaterne saß, war im Dunkeln kaum zu erkennen.
Ich blieb stehen und sah sie vorwurfsvoll an. „Du hast mich beobachtet!“
Sie flatterte in den Lichtkegel und landete auf einem Laubhaufen. Dann legte sie den Kopf schräg und taxierte mich mit diesem unergründlichen, rätselhaften Blick, den Krähen so perfekt beherrschen.
„Du bist mir nicht ganz geheuer“, sagte ich zu ihr und wollte schon weitergehen.
Doch die Krähe flatterte vor mir her zu der nächsten Straßenlaterne. Dort wartete sie, bis ich herankam, dann flog sie in eine Straße, die nicht auf meinem Weg lag. Sie setzte sich so hin, dass ich sie sehen konnte, und begann, laut zu krächzen.
Offensichtlich sollte ich ihr folgen.
Ich zögerte. Ich hatte keine Ahnung, auf wessen Seite diese Krähe stand. Dass sie ein Werkzeug des Voodoo-Priesters war, erschien mir ziemlich wahrscheinlich, aber sie hatte noch
nichts getan, um mir zu schaden. Ich hätte zwar gern gewusst, wohin sie mich führen wollte, doch meine Vernunft sagte mir, dass Essen und Bier der bessere Plan war.
Die Krähe bemerkte meine Unentschlossenheit und hüpfte ungeduldig auf und ab. Ich schüttelte den Kopf und zeigte in Richtung State Street. Sie hob mit einem Sprung vom Boden
ab und segelte so dicht an meinem Kopf vorbei, dass ich mich rasch duckte. Wenn ich mich nicht fügte, dann trieb mich das verdammte Vieh am Ende noch wie ein wahnsinniger geflügelter Hütehund vor sich her!
„Schon gut! Schon gut!“, rief ich. „Ich komme mit.“
Das Straßenlaternenspiel zog sich noch über mehrere Blocks hin. Dann, als wir die Regent Street erreichten, dachte ich plötzlich, ich hätte die Krähe verloren. Das gleißende Licht einer Tankstelle ließ die ganze Kreuzung in einer surrealen Helligkeit erstrahlen. Ich hielt zwischen Zapfsäulen und Zigaretten- und Bierreklamen vergeblich nach dem schwarzen Vogel Ausschau. Ich spähte auch nach oben auf die Dächer, aber außer dem dunklen Himmel sah ich nichts.
Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ging ich weiter. Als ich die hell erleuchtete Tankstelle gerade hinter mir gelassen hatte, hörte ich die Krähe plötzlich wieder krächzen. Sie saß auf einem Bushaltestellenschild. Ich blieb stehen und wartete darauf, dass sie mir den Weg wies. Als ich sie fragend ansah, begann sie, ihr Gefieder zu putzen.
Ich schaute zu der Wartebank, dann wieder zu dem Vogel. „Ich soll mit dem Bus fahren?“
Die Krähe wippte zustimmend mit dem ganzen Körper.
Na schön, dachte ich und setzte mich. Die Kälte der Kunststoffbank drang im Nu durch die Risse in meiner Jeans an meine Oberschenkel, und ich fragte mich, wie lange ich dieses alberne Spielchen noch mitmachen wollte.
In diesem Moment hielt der Bus mit quietschenden, zischenden Bremsen an der Haltestelle. Ich kramte ein bisschen Kleingeld aus meinem Portemonnaie und stieg ein. Der Busfahrer musterte mich, als hielte er nicht viel von Leuten wie mir, aber trotzdem brachte er eine freundliche Begrüßung zustande, die ich erwiderte, bevor ich mich auf einen Platz im vorderen Teil des Busses setzte. Die Türen schlossen sich ächzend. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie die Krähe davonflog.
Als der Bus ruckelnd losfuhr, überlegte ich, woher ich wissen sollte, wann ich wieder aussteigen musste. Wir brausten an dunklen Einkaufspassagen, zweifelhaften Bars und Tattoo-Studios mit flimmernden Neonschildern vorbei. Ich drückte mir die Nase am Fenster platt, und einmal glaubte ich, etwas über den Parkplatz eines Lebensmittelladens fliegen zu sehen, aber sicher war ich nicht.
Was machte ich hier überhaupt? Parrish war unterwegs und stellte in dem Bemühen, sich töten zu lassen, Göttin weiß was an. Da wollte ich sein, bei ihm, und nicht in einem schmuddeligen Bus, der das Stadtzentrum in südlicher Richtung verließ. Ich hätte Parrish so gern geholfen! Ich kam mir völlig nutzlos vor, dabei war ich ja verantwortlich für seine aktuellen Probleme. Obwohl ich nicht viel für Gebete übrig hatte, beschloss ich, schnell eins an Athene zu richten. In der Vergangenheit hatte ich IHRE Gegenwart bereits in Situationen gespürt, wenn ich Schutz gebraucht hatte, und SIE schien mir in diesem Fall die richtige Ansprechpartnerin zu sein.
„Beschütze ihn“, bat ich SIE. „Nimm ihn unter deine Fittiche!“
Ich atmete tief
Weitere Kostenlose Bücher