Beiss noch einmal mit Gefuehl
die Flucht antrete. Ich lasse mich eine Zeit lang jagen, locke sie von hier fort und sorge dafür, dass sie völlig überzeugt von meiner Schuld und Verzweiflung sind.“
Er schaute zur Treppe, machte aber keine Anstalten zu gehen.
„Das war’s dann also“, sagte ich.
„Ja.“
Ich nestelte an seinem Reißverschluss, obwohl es da nichts in Ordnung zu bringen gab. „Ich wünschte wirklich, ich … Du wirst mir fehlen.“
Parrish erwiderte nichts. Er machte sich einfach von mir los und ging. Mir kamen die Tränen, als ich ihm nachschaute, wie er die Treppe hochging. Die Fliegengittertür quietschte, dann fiel sie zu. Kalte Oktoberluft streifte mein Gesicht.
Als ich eine Spinne in meinen Haaren spürte, fuhr ich mir so oft mit der Hand über den Kopf, bis ich sicher sein konnte, sie los zu sein. Ich blinzelte in die Dunkelheit und stellte fest, dass ich über zwanzig Minuten im Keller gestanden und die Tür am oberen Ende der Treppe angestarrt hatte. Ich rieb mir die Augen und ging langsam nach oben. Natürlich würde ich jetzt unmöglich schlafen können. Ich hatte das Bedürfnis, irgendwohin zu gehen, irgendetwas zu tun, aber was?
Ich schlich mich in den Eingangsflur und spähte vorsichtig aus der Haustür. Um durch das schmale, bleiverglaste Fenster schauen zu können, musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen. Der Van war nirgends zu sehen, doch das musste nicht unbedingt heißen, dass meine Wohnung nicht mehr beobachtet wurde.
„Die sind weg, Mann“, hörte ich eine raue, matte Stimme sagen und zuckte erschrocken zusammen.
Aus der Tür im ersten Stock schaute ein verfilzter, sonnengebleichter blonder Schopf hervor. Auch das schmale, kantige Gesicht war reichlich zugewachsen - dunkle Koteletten und ein ungepflegtes Unterlippenbärtchen. Seine Augen waren kaum zu sehen, aber in Anbetracht des intensiven Grasgeruchs, der aus der Wohnung kam, ging ich davon aus, dass seine Pupillen extrem geweitet waren.
„Mann“, redete er langsam und eindringlich auf mich ein, als wäre ich die Benebelte, „ich sage dir doch, die Bullen haben sich verdünnisiert. Die Luft ist rein. Alles wieder im grünen Bereich.“ Aus irgendeinem Grund schien er das lustig zu finden und ließ ein hämisches Kichern vom Stapel.
„Äh, okay. Danke, Nachbar“, sagte ich.
Er nickte weise, machte das Peace-Zeichen und verschwand wieder in seiner Höhle.
Wow. Ich hatte eigentlich noch nie richtig mit meinem Nachbarn gesprochen. Seltsamerweise hatte unser kurzer, kryptischer Wortwechsel zur Folge, dass ich ihm auf einmal viel freundlicher gesinnt war. Ich schüttelte den Kopf und ging nach oben.
Als ich meine Wohnung betrat, überlegte ich, ob ich Licht machen sollte, aber irgendwie konnte ich mich doch nicht dazu durchringen, dem alten Kiffer zu vertrauen. Ich beschloss, noch ein paar Kerzen aufzustellen, und auf dem Weg ins Schlafzimmer sah ich meinen Anrufbeantworter im Dunkeln blinken.
Die erste Nachricht war von meiner Mutter, die sich erst einmal darüber beschwerte, dass sie meine alten Freunde hatte durchtelefonieren müssen, um an meine Nummer zu kommen. Sie berichtete, dass sie möglicherweise die Farm verkaufen mussten. Ich verdrehte nur die Augen, denn diese Panik befiel meine Mutter offenbar alle paar Jahre. Dann sagte sie noch, dass vor ein paar Wochen ein gut aussehender FBI-Typ vorbeigekommen sei, ich mir aber keine Sorgen machen solle, weil sie und Dad „total cool“ geblieben seien.
Es war typisch für meine Mutter, den Besuch des FBI-Agenten als Letztes zu erwähnen. Und sie hatte nicht etwa um den heißen Brei herumgeredet — sie war einfach nur ziemlich vergesslich, was solche Dinge anging. Um die Wahrheit zu sagen: Auf der Farm meiner Eltern waren nicht nur die Hühner glücklich.
Meine Leute zu Hause waren auch Kiffer.
Die meiste Zeit waren sie absolut funktionsfähig. Sie führten schließlich erfolgreich eine Hühnerfarm. Weil sie sich jedoch im Lauf der Jahre eine Menge Synapsen verschmort hatten, war die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen nicht gerade ihre Stärke. Als vergangenes Halloween alles den Bach hinuntergegangen war, hatte ich meine Eltern angerufen, um ihnen zu sagen, dass es mir gut ging. Ich müsse untertauchen und niemand dürfe erfahren, dass ich noch am Leben war, hatte ich ihnen erklärt. Darauf hatte ich nur ein benebeltes „cool“ zu hören bekommen und den Rat, ich solle, um in Kontakt mit ihnen zu treten, das Postfach benutzen, das sie irgendwann in einer
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