Bekehrung: Ein Eifel-Krimi (Eifelkrimis) (German Edition)
Neben der Tür hat sich eine Frau mit dem Rücken auf den kalten Steinboden gelegt und tritt wie eine besessene Radfahrerin gegen die Wand. Sisyphos hat seinen Stein wenigstens hochrollen können; sie aber trampelt nur auf der Stelle. Vermutlich versucht sie gerade, die Schwerkraft zu überwinden.
Eine sehr kurze Neonröhre an der Decke taucht die Szenerie in ein gespenstisches Licht. Es ist eiskalt.
»Hallo?«
Mein Ruf verhallt ungehört. Ich schicke noch ein sehr lautes »Guten Tag!« hinterher. Doch keine der Gestalten nimmt überhaupt zur Kenntnis, dass Fremdlinge eingedrungen sind.
Als hätte ihm das Gorillastricken nie ein Knieproblem bereitet, schiebt sich Jupp an mir vorbei, sprintet zum gemauerten Kamin in der Mitte des großen Raumes, fegt unterwegs auf dem Boden verstreute Papiere auf und entfacht mit ihnen das letzte bisschen Glut aus dem fast erloschenen Kohlehaufen. Wie ein Wahnsinniger zertritt er einen umgekippten Holzstuhl und wirft die Teile auf das kleine Feuer. »Mehr Holz!«, brüllt er.
Hein ist mit seiner Kanne an eine der Pritschen herangetreten und spricht auf eine Frau mit ausgemergeltem Gesicht ein. Es bereitet ihr offensichtlich Mühe, den Kopf abzuwenden.
David hat seinen Teller auf einem Stuhl abgestellt und versucht, die Rad fahrende Frau aufzurichten. Sie stößt ihn weg und seltsame Laute aus.
Die kühl kalkulierende Barbara Gordon soll vorgehabt haben, mit diesen trostlosen Gestalten nach Amerika auszuwandern? Nie im Leben! Die Frau ist abgetaucht, um der Strafverfolgung zu entgehen, und hat ihre kopflosen Adepten sich selbst überlassen! Nach ihr die Sintflut. Wobei sich allerdings die Frage aufdrängt, weshalb sich die vermögende Frau überhaupt eine solche Schar ans Bein gebunden hat. Mit ihrem Geld und ihrem Verstand hätte sie doch auf ganz andere Weise über ganz andere Menschen Macht ausüben können. Stattdessen umgibt sie sich mit Leuten, die nichts zu verlieren haben außer ihrem Leben. Wahrscheinlich hat dies für ihre intellektuelle einstige Vorhut, für Jean-Marie Lambert und Volker Maraite, nicht gegolten – die sind abgehauen, bevor sie ihren Verstand gänzlich abgeliefert hatten.
Ich ziehe mein Handy hervor und rufe die Polizei in Euskirchen an. Zum Glück werde ich sofort an einen zuständigen Beamten weitergeleitet, und zwar an einen, der Donnerstagnacht in der Einkehr vor Ort gewesen ist. Das erspart mir unnötige Erklärungen. Ich teile ihm mit, dass ich den Zufluchtsort der Mörderin von der Kehr ausfindig gemacht hätte. Die Frau werde noch weitere Menschenleben auf ihr Gewissen – ich stocke bei dem Wort, weil es zu Barbara Gordon nicht so recht passen will – laden, wenn Notarzt und Krankenwagen nicht schnellstens zum einstmals verlassenen Hof am Losheimer Landgraben eilen würden.
Während ich rede, wandere ich quer durch den Raum, vorbei an den Werkbänken zu einer Hintertür. Sie ist unverschlossen und führt ins Freie. Vermutlich hat Pastor Lambert nach seinem Abgang auch diese Tür genutzt, um auf die Adepten einzuwirken. Die fünf Leute hätten ihren Käfig tatsächlich jederzeit verlassen können. Warum nur sind sie geblieben? Aus den Untiefen meiner Halbbildung steigt die Zeile aus einem Gedicht von Kurt Tucholsky empor: Und ließ der Wärter selbst die Türe offen: Man geht ja nicht.
Dienstag, sieben Uhr morgens
Ich bin mit Linus allein in meinem Haus und habe trotz großer Müdigkeit kaum geschlafen.
Die verstörte Sippe wird jetzt im Krankenhaus ärztlich versorgt und David in Euskirchen ausführlich verhört. Mich wollten die Beamten zunächst auch mitnehmen, aber ich behauptete, nichts weiter zu wissen, als dass David in meinem Haus aufgetaucht sei und um Hilfe für die kopflose Schar der Sippe nachgesucht hat. Ich betonte ausdrücklich, dass der Amerikaner zwar für Barbara Gordon gearbeitet, aber weder von dem Mord an Jean-Marie Lambert noch von dem Anschlag auf Claire Maraite etwas gewusst haben könnte.
Welche Erkenntnisse die belgische Polizei inzwischen gewonnen habe, wisse ich leider auch nicht, versicherte ich auf eine nicht sonderlich diskrete Nachfrage. Ich hätte nur gehört, dass Polizeiinspektor Marcel Langer offenbar eine heiße Spur verfolge. Die Euskirchener könnten sich ja bei der Polizeizone Eifel in St. Vith gleich erkundigen, ob dabei Relevantes für den Fall herausgekommen sei. Der Polizist rief tatsächlich sofort an. Ich lauschte gespannt, konnte dem kurzen Wortwechsel aber nur entnehmen, dass alle
Weitere Kostenlose Bücher