Bel Canto (German Edition)
lassen würden, Olivo war niemals eine Persönlichkeit dieser Größenordnung, dass ihn jemand beseitigen wollte. Nie war er für Carli eine tatsächliche Gefahr. Der hatte gefährlichere Gegner! Olivo? Das ist lächerlich. Man kann das mit seinem Bestreben erklären, sich in einer Zeit wichtig zu machen, als sein Stern schon offensichtlich im Sinken war.
»Tun Sie ihm nicht unrecht, waren das nicht die Verhältnisse, die Macht der Umstände, die ihm nicht günstig waren?«
Matteo erinnert sich, wie Valori über Ernesto verkündet hat: »Ein Phantast! Er überschätzt sich!«
»Und Giulia?«
Matteo sagt, sie sei ihm zu schön und zu unerreichbar erschienen, um auf den Gedanken zu kommen, um sie zu werben.
Ich wage nicht, Matteo daran zu erinnern, dass ich nach Ernesto und Giulias Beziehung frage und nicht nach seinem Verhältnis zu ihr. Aber er wird in seinen Erinnerungen schon darauf zu sprechen kommen.
Er erzählt, wie er einmal am Tisch neben ihr saß, überrascht durch das Interesse, das sie ihm entgegenbrachte. Nach dem Abendessen sang sie –
»Und Olivo?«
»Olivo spazierte mit ihr durch den Garten.« Matteo sieht sie: Olivo gestikuliert und legt Giulia seine ehrgeizigen Pläne dar.
Ich wende ein: »Was erzählte er ihr denn über seine Pläne, die er sogar vor seinen Freunden verheimlichte? Ich weiß, wie Giulia sich manchmal beklagte, Ernesto spreche achtlos mit ihr.«
Damals allerdings war Ernesto sehr jung und entzückt von Giulias Bewunderung (aus Unkenntnis anderer Helden verglich sie ihn mit Alexander dem Großen), doch vielleicht spiegelte sich in ihrer Bewunderung nur sein Ehrgeiz.
Das ist wenigstens eine Ansicht Matteos, die ich nicht vertrete. Er ergänzte sein Bild: Olivo gestikulierend undJulinka im weißen Kleid (oh, Sommer, wo immer die Sonne scheint!) mit ausladendem Hut, mit einem hohen Hirtenstab?!, an den sie ein paar Rosen gebunden hatte! Das ist doch nur Matteos Phantasie! Damals trug man Sonnenschirme mit einem ziemlich langen Griff: Sollte das ein Hirtenstab gewesen sein? Übrigens wer weiß, ob nicht Matteo recht hat? Giulia hatte doch immer ein paar Überspanntheiten.
»Julinka und Olivo.«
Matteo weiß darüber alles, aber die Leute reden mehr, als wahr ist. In der Gesellschaft seines Onkels sprach man zum Beispiel auch davon, jemand hätte Matteo gesehen, wie er morgens aus einem Küchenfenster im Erdgeschoss gestiegen sei. Und sobald er sich zu einem jungen Mädchen setzte, eilten augenblicklich die Mutter oder die Gouvernante herbei, um die junge Dame unter einem Vorwand wegzuführen. Matteo konnte sich das anfänglich nicht erklären, heute erklärt er es mir mit einem Lächeln: ich wollte einfach frühmorgens ausreiten. Alle schliefen noch, die Küchentür war verschlossen, Matteo hatte Hunger – er war achtzehn – stieg einfach durch das Küchenfenster ein; fand ein bisschen Milch, und gerade als er wieder hinaus wollte, öffnete Frau Boccansacchi über ihm das Fenster und sah ihn. Als er vom Spazierritt zurückkehrte, wussten schon alle, wo er die Nacht verbracht hatte.
Dabei lacht Matteo sein schönes Lachen, sein ganzes Gesicht wird mit einem Schlag von Trauer und Verdruss in strahlende Fröhlichkeit verwandelt. Sein Lachen hallt von der Wand des leeren und verlassenen Raums wider, klingt auf, und mit einem Schlag ist Matteos Gesicht wieder ein wenig traurig und missmutig.
Matteo hat damals nur Beatrice gerettet. Sie musste nämlich zu jener Zeit ihre Liebe verheimlichen und nahm gern die Gesellschaft des jungen Mannes an, der ihr nicht den Hof machte. Alle alten Damen sagten, dass einzig Beatrice Matteo retten könne. Matteo belustigt noch heute der Gedanke, wie alle Mütter ihre Töchter und Schutzbefohlenen von ihm fernhielten. Er fragt mich: »Wissen Sie nicht, was mit Beatrice passiert ist?«
Ich antworte, sie sei mit ihrer damaligen Liebe verheiratet und lebe auf dem Lande. Sie lebte glücklich bis zu dem Tag, an dem ihr Sohn durch einen Unglücksfall bei der Jagd umkam.
Matteo tut, als ob ihn diese Tragödie nicht viel anginge. Er sieht Beatrice immer, wie sie ihn als jungen Mann vor seinem schlechten Ruf rettet.
Ich sehe, weitere Fragen wären vergeblich. Matteo hat auf die Uhr geschaut und den Kellner gerufen.
Während er zahlt, bleibt mein Blick an Matteos Zeitung hängen, die vor mir auf dem Tisch liegt; ich sehe in Petit gesetzte Rubriken:
Import und Export. Außerordentliche Maßnahmen zur Gründung und Vergrößerung von Betrieben.
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