Bel Canto (German Edition)
Stimmen, scheidet sie aber nicht so, dass sie nicht beinah gleichzeitig an jedem beliebigen Punkt der Erdkugel vernehmbar wären. Ich höre ihr Singen – bel canto * – nun, lieber Leser, mehr ist nicht nötig, man muss nur mit diesem Instrument umgehen lernen. Ich vertraue es dir an.
Bel canto, das ist ein Gesang, den nur versteht, wer glaubt, dass er im Theater in einer Opernrolle auftritt, bel canto, das ist ein Gesang, den nur versteht, wer träumte, dass er eines Tages auf der Bühne auftritt und dort, meinetwegen wortlos und ohne Stimme, seine Heldenleidenschaft heraussingt, wer annimmt, Theater sei, wie man sagt, Kunststätte, wer denkt, sein alleiniger Zweck sei, so und soviel Sitz- und Stehplätze zum bel-canto-Hören zu verkaufen. Nein, Theater ist keine Kunststätte, es ist ein Ort für Rendezvous, für Verzweiflung, Langeweile, Unterhaltung, wenn Sie wollen, für Eitelkeit. Wer nicht alle Kunst für den erwartungsvollen Augenblick hergeben würde, ob die geliebte Person in einer Loge, im Parterre oder auf dem Rang erscheint oder nicht, der verstehtnicht, was ein bel-canto-Liebhaber ist. Er begreift nicht, dass es möglich ist, an diesem Ort einmal Tränen in den Augen zu haben und ein andermal gewöhnliche Banalitäten zu sagen.
All diese Dinge hätte eigentlich der Held dieses Buches auszusprechen, unglücklicherweise entbehrt unser Ernesto Olivo jeder Vorliebe für das Theater, jeden musikalischen Gehörs. Um keinen Preis bekomme ich ihn dahin, wo ich durch seinen Mund den Satz flüstern könnte, den ich seit Langem auszusprechen wünschte. Unglücklicherweise ist es nicht möglich, ihn als eleganten Helden in die erste Reihe im Parkett, das uns in das Zentrum des gewünschten Geschehens führen würde, zu bringen. Unglücklicherweise ist es nicht möglich, ihn in den Rang zu setzen und ihm eine romantische Partitur in die Hände zu legen. Welch Jammer mit der Wahrheitsliebe. Ernesto gibt stets und bei jeder Gelegenheit seine absolute Verachtung für das Theater kund.
Und doch kenne ich die Opernloge genau, die mein Held betritt, wenn ihn die Sehnsucht nach Theater, nach Abenteuer überkommt – nach welchem? Er weiß es selbst nicht, ob er eine bestimmte Gestalt dort zu erblicken wünscht und flüstern möchte: ich liebe Sie, oder ob er in den schäbigen Kulissen den Ort sucht, wo sich seine Schicksale abspielten, abspielen oder abspielen werden.
Ernesto würde über diese Romantik lachen, und doch prahlt er, jede Woche wenigstens einmal eine Tänzerin aus der Oper, eine »Balletteuse« wie er sagt, im Arm haben zu müssen. Angenommen, er prahlt nur, angenommen, er sagt das nur aus Eitelkeit – dennoch sehnt er sich nach bel canto, nach dem Augenblick, wenn in unserenVorstellungen ein Stück dieses phantastischen Raums aufscheint, des einzigen Ortes, von dem wir meinen, dort könne unsere Sehnsucht gestillt werden.
Ernesto würde lachen, würde sagen, seine Sehnsucht (die wirkliche oder vorgetäuschte) nach einer Tänzerin sei das Verlangen, einen sinnlichen Körper in seinen Armen zu halten. Er bildet sich auf seine gesunde natürliche Sinnlichkeit, auf alle Empfindsamkeit etwas ein, und würde uns auslachen, wollten wir sein Verlangen nach einer Tänzerin als Verlangen deuten, einen Schwan, ein Phantasiegebilde, in seine Arme zu schließen – Ernesto würde lachen – wie schade!
So würde ich mir wünschen, jener Held zu sein, mit dem ich in Erwartung der Abendvorstellung den schwindenden Nachmittag verbringen könnte; endlich würde ich mit der Geliebten bekannt, deren Parfüm mich unzählige Male im Theatergang erregte. Wie oft stand ich vor den Logennummern, ratend, hinter welcher von ihnen sie sitzt. Wie oft sehnte ich mich vergeblich, neben ihr zu sitzen, zu wissen, der Duft, den ich rieche, ist der Duft ihrer Schultern und nicht bloß der des roten Samtes. Ernesto hat meine Erwartungen nicht erfüllt.
Wir saßen am frühen Abend zusammen in einem Café nahe dem Mailänder Dom, und das rosa Eis erinnerte mich an den staubigen, schäbigen, romantischen Duft vom Theater. Ich fühlte im Hals das Brennen des Eises, ein süßes Brennen, im Unterschied zum Brennen salziger Tränen. Ein Konditor in weißer Schürze, mit weißer Kappe – die gestärkten Falten der schneeweiße Mütze legten sich um sein dichtes schwarzes Haar – schnitt im Hintergrund des Cafés, an einem Buffet aus dunklem Holz und Marmor,seine süßen Gebilde, die mir am Gaumen und im Hals wie Tränen brannten. Bestimmt
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