Bel Canto (German Edition)
Pause im Foyer anbieten: er wird Giulia seiner Tochter vorstellen und die soll ihre Stimme prüfen; sie wird morgen auf Giulia warten, um elf Uhr vor dem Hotel »Zum Schwarzen Pferd«.
Die Leute machen sich aufmerksam: das ist ihr Vater! Sie zeigen auf Giulia: Sie trägt noch Halbtrauer.
»Die und Trauer! Schaut sie euch an!«
»Singt noch nicht und verhält sich schon wie eine vom Theater!«
»Diese Stimme!«
Diese Stimme!
Timide cure, uscite dal mio petto! *
Giulia hört, den weißen Fuchs über der Schulter: Furchtbare Sorge, entflieh meiner Brust!
Glaubt sie daran, dass sie morgen der Sängerin vorgestellt werden soll? Sie bezweifelt vielleicht nicht einmal, dass die Sängerin ihre Begabung erkennen wird, wie das ihre Gesangslehrerin getan hat, Giulia selbst glaubt daran. Wie wäre es möglich, zu zweifeln: sie ist noch keine neunzehn Jahre, sie ist schön –
Timide cure, uscite dal mio petto!
Man folgt der herrlichen Stimme, wie man ihr in Berlin, in Mailand, in New York folgte: Timide cure! Uscite dal mio petto!
Ich folge dieser herrlichen Stimme, beuge mich vor, spüre den weiblichen Duft, verneige mich in der Dämmerung des Zuschauersaals und flüstere: l’ogni donna mi fa palpitar. Ein leicht überraschtes Gesicht wendet sich mir zu, aber sein erstauntes Lächeln, hauptsächlich jedoch der Glanz seiner Augen, gibt mir den Mut zu flüstern: parlo d’amor con me!
EUROPÄISCHE OPER
Wo beginnen?
Ich denke häufig an die Miniaturbühne, die Giulias Toilettentischchen für mich darstellte, an das Drama, auf das sie sich, zuerst als Adeptin, dann als Choristin, dann als Solistin und schließlich als Alternde, vorbereitete –
Wie oft betrachtete ich ihre Hände, die getuschten Wimpern, den Mund, wie oft war ich bei ihr, wenn sie eine neue Frisur prüfte, wie oft besuchte ich sie in der Erwartung, dass das europäische Drama auf ihrem Tischchen, begleitet von den Einzelstimmen ihres Lebens in Berlin, in Wien, endlich in Gang kommen wird. In allen Zimmern, die Giulia in diesen zehn Jahren bewohnte, sah ich stets die Rollenauszüge auf dem Tischchen. Wo beginnen?
Ich habe allerdings nicht das Zimmer in Berlin gesehen, wo Giulia zur Untermiete bei einer alten Dame wohnte und sich damit den Schein einer guterzogenen Tochter aus anständiger Familie gab. Aus jener Untermiete ging sie zu den Stunden Professor Lehmanns, der sagte: » Böhmen ist mit guten Stimmen gepflastert. «
Damals bildete sich Giulia erst für die große Rolle aus, in der sie nie aufgetreten ist und nicht mehr auftreten wird. Wird sie diesem Gedanken entsagen? Kann sie ihm entsagen? Aus dieser Wohnung ging sie in die teuren, mit Gold bezahlten Stunden Professor Lehmanns. Um diesen besonderen Ton, den man angeblich nur durch ein Studium bei Professor Lehmann erzielt, erreichen zu können, hattesie oft nur trockene Kartoffeln zu essen. Jenes bei seinen Schülern in allen europäischen Städten bewunderten Tones wegen, Tönen, denen Kaiser, Journalisten, Bourgeois huldigten, Tönen, in denen die Sinne und Träume Tausender, Hunderttausender gewiegt wurden. Tausende warteten auf das Wunder, mit ihren Sinnen dieses kunstvolle Vibrato aus der menschlichen Kehle zu erlauschen. In dieser Zeit sehnte sich Giulia danach, eines dieser Wunder, eines der mit Gold bezahlten Instrumente Professor Lehmanns zu sein. Oft versagte sie sich deswegen Mittag- und Abendessen.
Was weiß ich über ihre damalige Wohnung? Nichts, nur dass sie dort bei einer verarmten Dame in Untermiete, ihre schon lange veränderte Lage verbergend, noch als Tochter aus guter Familie auftrat. Dort hat sie ein tschechischer Tenor mit seiner Frau besucht. Auch ihnen täuschte Giulia (wie sie mir sagten, als ich sie traf) einerseits ihre Erfolge bei Professor Lehmann, andererseits ihre gesellschaftliche Stellung vor. Sie hatten Giulias Einladung zu einem kleinen Abendessen angenommen.
Sie hatten sie gebeten, ihnen etwas vorzusingen. Vielleicht hat sie sich damit herausgeredet, dass der Professor ihr verboten hätte zu singen. Vielleicht hat sie irgendeine Tonfolge gesungen: dann mussten sie augenblicklich verstehen, dass Giulias Stimme einfach nicht für die Opernszene der Welt geschaffen ist. Vielleicht waren sie vom Namen Professor Lehmanns geblendet und von der Art, mit der Giulia ihre Rolle als Gastgeberin spielte?
Ich glaube, auf dem Heimweg sprachen sie vermutlich über den geringen Umfang ihrer Stimme. Mit der Zufriedenheit von Leuten, die eigene Erfahrungen haben. Sie
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