Bel Canto (German Edition)
Fotografie, vertiefte sich lange in sie und zeigte sie mir ohne Erklärung. Ich fragte nichts. Es war eines jener Bilder, wie sie Berufsfotografen in Badeorten der ganzen Welt machen. Erstaunlicherweise war sie gelungen. Giulia, damals vielleicht neunzehn, sah darauf gereift aus, langer Rock, mit Vogelschwingen geschmückter Hut, Sonnenschirm.
Sie hat nicht gesagt, woher das Foto ist, sie sprach über die neue Methode, mit der ihre Stimme bewundernswerteResultate erzielt hatte. Dabei hielt sie die Fotografie in der Hand, ich sah die Kiesel am Meeresufer, hörte, als ob es jetzt wäre, das Wortgeröll Frau Lavinias. Ich sah die schöne und elegante Figur der neuzehnjährigen Giulia und neben ihr Ernesto. Ich sah, dass die Vogelschwingen auf ihrem Hut von den Möwen stammen. Ich bin ihnen und auch Frau Lavinia am gleichen Tag begegnet. Ich sah den Tag, wie er tatsächlich sein kann und wie er in der Vorstellung eines Menschen sein kann. Ich sah ihn auf der Fotografie abgebildet, sah die Stelle, das Ufer an jenem Tage, als ich Frau Lavinia begegnet bin, den sonnigen Tag, als ich hörte: Wann sind Sie angekommen? Es wird Ihnen hier gefallen. Haben Sie ein schönes Quartier? Ist es nicht zu teuer?
Die Worte rollten in meinem Kopf Erinnerungssteinchen hin und her und zugleich sah ich den von mir in Wirklichkeit nicht erlebten, grauen Tag (sicher genauso?), als Meeresbrandung und Regen die Kiesel am Ufer in Bewegung brachten, jenen Tag, über den mein Freund erzählte: »Ich kam dort an, warte, in welchem Jahr war das? Ich weiß, es war schon Nachsaison und regnete schrecklich. Ich lag den ganzen Tag im Hotel im Bett und las Kant, den ich auf der Leipziger Messe gekauft hatte.«
In meinem Kopf bewegen sich die Kiesel in der Brandung der Erinnerungen, auf dem Foto mit Ernesto und Giulia sind sie unbeweglich. In meinem Kopf bewegen sich die Kiesel in der Brandung, zerschellen an den Basaltfelsen Kantschen Denkens. Ach, Giulia hatte in ihrer Bibliothek ein Buch über die Philosophie Kants. Sie hatte es nie bei sich, und deswegen kenne ich ihre Ansichten darüber nicht genau. Es lag mit dem Gesicht auf dem Schreibtisch, an dem Giulia immer Briefe schrieb, in dessen Schublade sienach Banknoten griff, und fand sie die Schublade leer – das Buch über Kants Philosophie lag mit dem Gesicht auf diesem Tischchen, auf dem die wertvollen Tabatieren ausgebreitet waren, an dem ich, vergeblich und lange Stunden auf Giulias Rückkehr wartend, saß.
Bei den Kieseln am Meeresufer (auf dem Bild mit Giulia und Ernesto) denke ich eher an jenen sonnigen Morgen, als ich Frau Lavinia getroffen habe. Manchmal werde ich mich jedoch für einen grauen Tag entscheiden, wenn die Meeresbrandung an den Basaltfelsen zerschellt, wenn Wind und Regen peitschen, wenn einem nichts bleibt, als ins Bett zu kriechen und Kant zu lesen. Man weiß, der Wucht seines Schicksals kann man nicht entkommen, das wusste auch mein Freund, als er sich auf der Leipziger Messe Kant gekauft hat.
Sie wollen wissen, wie es in Wirklichkeit war. In welcher Wirklichkeit? In der Frau Lavinias, in der meines Freundes, der sich in Leipzig Kant gekauft hat, in Giulias, Ernestos, meiner eigenen?
Damals hatte ich im Hotel an einem brünetten, gebräunten Mädchen Gefallen gefunden, ich hatte sie bemerkt, als sie zum Baden ging und von dort kam: ein farbiger Kimono hatte ihre braune Haut entblößt. Ich habe sie ein paar Mal auf der Treppe getroffen und schließlich habe ich versucht, ihr einen Brief zu senden. Unmittelbar darauf habe ich sie getroffen, in einem Seidenkimono, lachend, mit einem schönen jungen Mann; ich weiß nicht einmal, ob sie meinen Brief erhalten hat, weil sie am nächsten Tag verschwunden war. Die Leute reisten haufenweise ab, die Mobilisierung wurde verkündet, das war im August 1914.
Ernesto und Giulia waren wahrscheinlich schon früher abgereist. Etwa zwanzig Jahre später sah ich in Ernestos Wohnung die Fotografie von ihrem damaligen gemeinsamen Aufenthalt: der Teil mit Giulia war weggeschnitten.
Damals ahnte ich noch nichts von jenen Ereignissen und habe, wie versprochen, Frau Lavinia aufgesucht. Der Ort, wo sie wohnte, war für sie und ihre Tochter so bezeichnend, dass ich ihn beschreiben muss. Man kann ihn unter zwei Gesichtspunkten sehen, genau wie das Leben Frau Lavinias und ihrer Tochter: auf der einen Seite die bescheidene Häuslichkeit und das Naturell Frau Lavinias, auf der anderen Seite die leichtlebige Gesellschaft und die Charaktere von Mann
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