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Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milada Součková
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erforschen bei allem was man unter dem Himmel tut. (Solch unselige Mühe hat Gott den Menschenkindern gegeben, dass sie sich damit quälen sollen.)« *
    Giulia meint, Littmanns erziehen ihren Sohn richtig.
    Worte überqueren das Meer, aber das Meer quillt nicht über. Der Prediger spricht – tschechisch? deutsch? englisch? Ich reiße mich von ihm los und höre, Giulia erzählt mir etwas. Tschechisch? – logist – sie spricht es ›lodžist‹ aus – psychologist?
    Der Prediger geht am Ufer entlang und spießt mit einem Stecken Papierfetzen auf, Worte wie Papierfetzen. Giulia lässt sie vor mir fallen, ich spieße sie mit dem Stecken auf und werfe sie in den Sack. Heute war ein Haufen Leute am Meeresufer, um den PREDIGER zu hören, weil morgen Memorial Day ist. Am Meeresufer liegt ein Unmenge Abfall. Ich spieße bedrucktes Papier auf, weggeworfene Verpackungen von Dingen, die die Menschen heute benötigen und bedruckte Papierfetzen ihnen mit viel Worten einreden. Die Bonbons Herrn Littmanns sind auch in Papier gewickelt, das von der Hygiene Tausender, Hunderttausender spricht. Ebenso peinlich achtet Herr Littmann auf die seelische Hygiene seines Sohnes. Er hat an Automaten verdient und verdient an Handelshäusern, an der Hygiene Tausender und Hunderttausender; seine Bonbons sprechen Laute aus, Worte, fertige Sätze; wie mit der Zauberruteberühren sie die Stimmbänder und die werden die Worte des PREDIGERS anstimmen oder wiederholen:
    »Schau, das habe ich gefunden (spricht der Prediger), eins nach dem anderen, dass ich Erkenntnis fände.
    Und ich suchte immerfort und hab’s nicht gefunden: unter tausend habe ich einen Mann gefunden, aber ein Weib hab ich unter allen nicht gefunden.
    Schau, allein Gott hat den Menschen aufrichtig gemacht; aber sie suchen viele Künste.
    Wer ist wie der Weise, und wer versteht etwas zu deuten?« *

IN DER PAUSE
    Giulia selbst reden lassen? Sie auf den erhabenen Platz direkter Rede und Erzählens setzen, sie auffordern: Erzähle selbst?
    Ich könnte gut die Aufgabe übernehmen, alles treu zu schildern, was der direkten Rede vorausgehen wird. Oft war ich in den Augenblicken kurz vor Giulias Auftritt anwesend. Sei es ein Auftritt im Operettenchor, ein Auftritt in einem der großen Wiener Theater (zu dem Giulia die Beziehungen ihres damaligen reichen und einflussreichen Liebhabers verhalfen), sei es die ich weiß nicht wievielte Reprise von Giulias Operettenauftritten, sei es ein Konzert in Mährisch-Ostrau, in Brünn, in Prag, immer war es das Gleiche. Immer war in Giulias Augen jener befangene Ausdruck, den gewöhnliche Menschen (die nicht als Künstler auftreten) in Augenblicken haben, wenn sie sich auf eine steilere Laufbahn begeben. An Giulias Augen war in solchen Momenten zu sehen, dass ihr Blut schneller und schneller strömt. Sichtbar nach außen, weil Giulia kurz vor dem Auftritt auf die Toilette musste, und wenn das an einem Ort, wo sie gerade auftrat (zum Beispiel in Mährisch-Ostrau), zu weit war, musste ihr die Garderobenfrau ein entsprechendes Gefäß bringen. Einmal schickte sie sogar Lazsky danach: Von Giulia konnte doch niemand verlangen, im letzten Moment vor dem Auftritt über einen langen Gang zu laufen und sich zu verkühlen.
    In diesem Moment hatte Giulia, die immer auf guten Manieren bestand, vergessen, dass Lazsky und ich Männersind. In ihren Augen, hinter denen der Blutstrom pulsierte, der bewirkte, dass sie wenige Minuten vor dem Auftritt auf die Toilette musste – sah man, dass sie in uns nicht die Männer sieht, die sie sonst gern wegen eines winzigen Makels in ihren Essmanieren ermahnt hätte. Ich habe das oft erlebt.
    In solchen Augenblicken zögerte Giulia nicht, sich vor mir umzukleiden. Ich sah sie, sich mit Hilfe der Garderobiere eilig enge Seidenkleider über den Kopf ziehen, sah sie bis zur Taille nackt, mit in Seide verschwundenem Kopf, nur darauf konzentriert, sich nicht die Perücke oder die Haare zu zerzausen. In der Garderobe gab es zwar manchmal einen Paravent, über den sie aber eher die Kleider warf, als dass er Giulia verdeckt hätte. Ich sehe ihre Figur, gegürtet nur mit einer rosa Korsage, die ihre Strümpfe hielt (so hat sie ausgesehen, als sie bei Farnhammer ein Kleid anprobierte, damals war sie freilich korpulenter), ich sehe sie, wie sie mit Hilfe der Garderobiere eine leuchtende Seide abstreift, ich sehe sie in der schwarzen Perücke der Carmen, unter der Giulias klare blaue Augen strahlen, ich sehe sie, wie sie die Hosen des

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