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Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milada Součková
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Stimme, nicht aufgeregt: Sie war zu überzeugt davon, dass sie jung und schön ist. Destinns Vater führte sie in den ersten Stock, in das Appartement seiner Tochter. Aus der Tür kam gerade der Tenor Pták heraus, mit dem die Destinn in »Dalibor« sang.
    Destinns Vater hat Julinka vorgestellt: das schöne Fräulein Herold, das eine künstlerische Laufbahn anstrebe.
    Die Destinn wollte vielleicht nicht direkt sagen, dass Julinkas Stimme nichts Besonderes verspricht: sie drückte es so aus: die Stimme sei nicht schlecht, aber sie brauche viel, viel Schulung.
    »Und zu welchem Lehrer würden Sie mir raten?«
    »Corelli oder Lehmann.«
    Julinka reiste nach Berlin, um bei Professor Lehmann zu studieren. Für eine Stunde bezahlte sie bei ihm so viel, dass sie manchmal zum Abendbrot oft mit trockenen Kartoffeln vorlieb nehmen musste.
    Herr Littmann ist aus der Nachbarvilla zurückgekommen, wo er den Sohn, der lange ausblieb, gesucht hat. HerrLittmann unterdrückt wegen der Gäste seine starke Erregung. Giulia hält es aus Dankbarkeit für ihre Pflicht, ihm plausibel zu machen, die Aufregung sei unnötig. Und wirklich, nach einer Weile erscheint der Sohn.
    Herr Littmann schilt ihn nicht, er erzieht modern: er ist bemüht, ihm klar zu machen, er solle, bevor er mit Freunden spielen gehe, wissen lassen, wohin er gehe und daran denken, dass er den Eltern Sorgen bereite und sie beunruhige, wenn er lange nicht nach Hause komme.
    Am Ende der Straße – als wir aus dem Haus getreten waren, um dem nach dem Sohn Ausschau haltendem Herrn Littmann Anteilnahme zu zeigen –, am Ende der Straße ist das Meer zu sehen –
    Herr Littmann überwindet seine Verstörung, unterdrückt und dämpft den Schrei in seiner Stimme, mit dem sich die gerade durchlebte halbstündige Spannung Luft machen möchte. Er bändigt die verständliche Erleichterung im Interesse der Erziehung seines Kindes. Der Ausbruch, mit dem sich Herr Littmann erleichtern könnte, wird unterdrückt. In dieser Kulisse spielt sich keine der menschlichen Tragödien ab, bei denen man in Tränen ausbricht. Herr Littmanns Stimme findet aus der tragischen in eine hygienische Lage zurück. Und Giulia, Frau Littmann, Herr Littmanns Schwester und ich sind Zeugen dieser Leistung.
    Am Horizont ist das weite Meer Kulisse einer Sonntagspredigt, die einen über eine menschliche Wortbrücke geleitet, über die Empfindungen eines endlosen Horizonts. Ich warte, dass ich das »Wort« vernehmen werde, das den Ozean überquert hat, um im Interesse der menschlichen Seele eine Rede zu halten. Herr Littmann vertritt hier denLaienpriester, der eine Kinderseele vor der Verderbnis bewahrt. Er ist durch seine Leistung ein wenig ausgepumpt und geht mit dem Sohn, der wirklich gut erzogen ist, nach Hause.
    Wir werden noch dem Song lauschen müssen, den Frau Littmann im grünen Kleid, mit einer rostbraunen Tönung im Haar und roten Fingernägeln, anstimmen wird. Sie müssen den Gesang dieses Vogels mit den grünen Federn, dem leicht rostbraunen Schopf, den roten Krallen, geschult mit Methoden der berühmtesten europäischen Lehrer, hören.
    Wir sind im Aufbruch. Frau Littmann bietet zwar an, uns zur Bahn zu bringen, besteht aber nicht darauf und wir gehen mit Giulia in die sommerliche Dämmerung, in den vom Sonntagsprediger verlassenen Raum, aus dem sich langsam die Zuhörermenge entfernt.
    Seine Worte haben das Sandkorn am Meeresufer berührt, seine Worte trockenen Fußes den Ozean durchschritten, Psalmen waren zu hören, gesungen von Stimmen, die die besten europäischen Lehrer geschult hatten.
    Giulia erzählt mir von diesen Konzerten. Ich bedauere, dass wir heute nicht näher an diesen Prediger am Meeresufer herangekommen sind; ihn haben Tausende, Hunderttausende, Millionen gehört. Zum Memorial Day versammelt er Hunderttausende am Meeresufer.
    Wir sitzen im Zug und ich lese die Aufschrift »Die Entfernung der Erde zur Sonne beträgt 92.897.409 Meilen, der Zug würde mit 60 Meilen pro Stunde diese Entfernung in 175 Jahren zurücklegen.«
    Das war das Thema des PREDIGERS, der heute am Meeresufer sprach. Die Atmungs-, Verdauungs- und Fortpflanzungsorgane der Meerestiere lauschten ihm; eslauschten ihm Tausende und Hunderttausende atmender, verdauender, sich fortpflanzender Scharen.
    In ihrer natürlichen Schlichtheit nahmen sie das WORT an, die Entfernungen zwischen den Welten mit der Geschwindigkeit menschlicher Verkehrsmittel vergleichend.
    »Ich richte mein Herz darauf, die Weisheit zu suchen und zu

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