Bel Canto (German Edition)
kräftigen Lippen, den frisierten Haaren, seinen dicken Schuhsohlen, seinem Wintermantel, der im Herbst nach Naphthalin riecht, seinem Trenchcoat gegen Frühjahrs- und Sommerregen. Alle Personen der Grünen Weiden können sich, wie Loeven, selbst das Frühstück zubereiten oder Makkaroni mit Soße aus Büchsentomaten kochen und alle flüstern mir schließlich heimlich zu: »Je peux vous dire un secret!«
Schließlich wird Loeven mir einen schwarzen Kaffee kochen (er hat auch Kondensmilch zur Hand, falls Sie vielleicht wollen!). Wenn Sie etwas einkaufen müssen, werde ich Ihnen zeigen, wo man am besten und billigsten einkauft. Am Ende, wirklich am Ende, klopft mir Loeven auf die Schulter und fragt, ob er mich nicht zu den Mädchen führen soll. Ich glaube, ich würde ihm die Freude verderben, wenn ich ablehnte. Ich wende nur ein, dass ich heute doch bei meiner Ärztin war. Loeven wird mich vorwurfsvoll anschauen und ich wage nicht mehr, seinen gleichzeitig ein wenig obszönen und auch wieder kindlich zur Fröhlichkeit aufmunternden Blick zu enttäuschen.
Unter seiner Obhut betrete ich ein Lokal, wo Loeven höflich zwei Damen in schwarzen Kleidern begrüßt. Er wechselt mit ihnen ein paar höfliche Worte, so als spräche er mit Damen eines Wohltätigkeitsausschusses oder einer Lotterie, in der sie sein Bild anbieten oder wo seine Freundin beteiligt wäre.
Er benimmt sich höflich und ungezwungen. Ich sehe in den Linsen seiner Brille das Bild eines mit Kacheln verkleideten Saals, Spiegelwände, an denen sich Ledersofas mit Tischen hinziehen, wie in einem Café. Zwei beleibte Männer, wohl Geschäftsleute, sind rot vom Trinken undvor Verlegenheit, vielleicht aus Hochstimmung, und schon führen die Mädchen sie weg. Ich sehe einen blassen, dunkel gekleideten schönen Mann, der uns nicht aus den Augen lässt. Ich sehe diese Szene, überschrieben mit aus den Worten ›Die grünen Weiden‹ zerfallenen Lettern, ich sehe die wohlbeleibten roten Geschäftsleute und höre eine Stimme, eine Frauenstimme, die Stimme ihrer Ehefrauen, die Stimme der Freundinnen ihrer Ehefrauen, ich höre ihr Flüstern: »Moi, chère amie, je peux vous dire un secret«.
Sind die zwei beleibten Männer zu verurteilen? Wird man ihnen verzeihen? Ihre Sünden sind nur diese paar Stufen vom Trottoir einer Seitenstraße herab. In Paris, in Berlin, in Prag.
Vor mir tat sich der Blick in eine Seitenstraße auf, entfernt aus einer Wohnung höre ich herzzerreißende Laute.
Wer weiß, ob das nicht diese Geschäftsleute aus der Provinz sind, aus der Hauptstraße irgendeiner Kleinstadt. Worte bilden das Stimmengewirr wechselnder Tage, Nächte, Wohnungen; das Durcheinander familiärer, erotischer, gesellschaftlicher Beziehungen: »Vous êtes bien en retard, mon ami!«
»Besuchen Sie uns bald!«
»Besuchen Sie uns wieder!«
»Wir freuen uns auf Ihren Besuch!«
»Du gehst wieder später!«
»Wenn du wüsstest!«
»Vous arrivez à l’heure, mon ami!«
»Wenn uns Ihre Frau hören würde!«
»Meine Frau macht sich keine Sorgen!«
»Ich muss heute Abend zu einer Versammlung!«
»Du kommst wieder später!«
»Tâchez de revenir avant minuit, mon ami!«
Ich höre das Flüstern, Worte, gesteigert bis zum wütenden Aufschrei, ich höre Männer- und Frauenstimmen. Und dazwischen die Stimme Loevens, der vor einem Glas Bier in seinen Betrachtungen fortfährt, als ob er im Kaffeehaus sitzen würde.
In seinen Brillengläsern spiegelt sich der Mann uns gegenüber. Wie Loeven lässt er sich durch die Gegenwart der Frauen nicht in seinen Gedanken stören. Ich höre Loeven eine beträchtliche Weile nicht mehr, weil ich unser Gegenüber anschaue: Er ist ganz in Schwarz, in seinem schönen Gesicht bewegt sich kein Muskel, obwohl er an jeder Seite ein Mädchen hat.
Ich höre Giulias Stimme: Nicht einmal diese Mädchen erreichen bei ihm etwas! Sie spricht natürlich über einen anderen Mann, den alle Frauen kalt ließen, bis er – Giulia traf! Welcher das war, weiß ich nicht mehr.
Die Augen des Mannes mir gegenüber schauen in den Raum der Grünen Weiden, schimmern in ausdruckslosem Glanz, der jeden Augenblick in unberechenbare Wut, in unberechenbare Zärtlichkeit umschlagen könnte. Was treibt ihn auf die Grünen Weiden?
Das ist ein junger Witwer. Ich weiß genau, er kann ebenso ledig sein, wie auch eine Frau zu Hause haben. Ich spüre nur, dass er jeden Augenblick in unsinnige Raserei oder in unsinnige Zärtlichkeit ausbrechen kann.
Samstag und Sonntag, das
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