Bel Canto (German Edition)
gesund wird!
Und sobald die, die ihm vorher so oft untreu war, sah, dass sie ihn verlieren könnte (nämlich seine Einnahmen und seine gesellschaftliche Stellung – denn was für eine Sängerin war sie? Eine Null!), hat sie begonnen, die liebende Ehefrau zu spielen: Sie sprach ständig von ihren Kindern, von denen vorher niemand wusste. Sie bot Ralf die Freiheit, aber in einer Weise, dass er sich an Händen und Füßen gefesselt fühlte.
Hätte ihn jemand in diesem Zustand, in dem er zu Giulia gekommen war, gesehen! Wer ihn kennt, hätte nicht geglaubt, dass er das sei. Er war halb verrückt: Er sagte, er könne nicht mehr arbeiten, das Leben zu Hause sei unerträglich: alle Freunde reden mit ihm nur darüber, es wäre charakterlos, würde er seine Frau verlassen, seine schöne Frau, die seine Lieder singe, ihm zum Erfolg verholfen habe. Etwas Derartiges könne er doch, den alle wegenseines Charakters schätzen, nicht machen. Und auch wenn er könnte, da seien die Kinder, die Ralf doch liebe. Wie stelle er sich das alles vor?!
Solche Sachen könnten jedem passieren, niemand verurteile ihn, niemand sage, er habe etwas Schlechtes gemacht, aber er könnte etwas machen, was ein anständiger Mensch nicht tut, schlimmer: Er könnte nicht nur das Leben seiner Frau und seiner Kinder zerstören, sondern könnte auch sich und seiner Karriere schaden und dafür seien seine Freunde da, dass das nicht passiere.
Giulia schildert mir, in welch schrecklichem Gemütszustand Ralf in der Nacht zu ihr gekommen ist. Ich sehe dabei die Fotografie mit ihm auf der Segeljacht, ich sehe ihn im weißen Segelanzug, nicht mehr der Jüngste (darin hatten seine Freunde recht, als sie ihn warnten).
Giulia muss nicht mehr viel ergänzen, parallel zu ihren Worten ersteht vor mir diese Szene:
Ralf, natürlich nicht im weißen Segelanzug, sondern im dunklen Anzug; ich bemerke das teure Kavaliertuch. Giulia bleibt nichts übrig, als mit ihm ihre Rolle zu Ende zu spielen. Bestimmt war das weder ihm noch ihr so angenehm wie jene leidenschaftlichen Szenen, die vorangegangen waren. Aber beide fühlten, dass sie bis zum Ende durchhalten müssen; Ralf wohl mit sichtlicher Anstrengung; kein Wunder, vergessen wir nicht, dass er schon die Szenen mit seiner Frau hinter sich hatte, die mit seinen Freunden! Sie werden eine zeitlang rücksichtsvoll mit ihm umgegangen sein, um zu zeigen, sie schätzen sein Opfer.
Giulia schildert mir die Szene: Licht fällt auf Ralfs weißes Seidenhemd (das Jackett hatte er abgelegt, als er gekommen war). Ich höre, wie mir Giulia etwas über dieweiße Seide des Hemdes sagt. In diesem Augenblick ist sie voller Gefühl – ihrem Tonfall nach weiß ich, sie sagt die Wahrheit. Es ist vielleicht eine Lüge, so fern es Ralf betrifft, aber wahr, solange es Giulia betrifft: Ich höre eine Frauenstimme, die mir ein Liebesgeheimnis anvertraut. Diese Stimme spricht mehr als die Wahrheit. Diese Stimme wirft ein Licht auf das weiße Seidenhemd, das Männerjackett, auf seine Ärmel, auf die Hand, jetzt bebt die Seide vom Atem – vom Atem des Rosenkavaliers, in seinem Liebeskostüm,
in diesem Moment bemächtigt sich der Stimme ungeheuchelte Liebe, ungeheuchelte Verzweiflung, ungeheuchelte Enttäuschung, ungeheuchelte Verachtung; in der Szene – im Zimmer von Giulias Wiener Wohnung –, bei der Beleuchtung, in der das weiße Seidenhemd auftritt.
Giulia ist verzweifelt, sie weiß in diesem Augenblick nicht, ob sie Ralf wirklich liebt, ob sie verstummen und aufhören soll, die Theatersätze zu sprechen, die Ralf von ihr erwartet. Es ist ihr unerträglich, dass er enttäuscht werden, ihre schöne Stimme nicht hören könnte. Sie weiß nicht, ob sie ihn dafür hassen soll, diese Szene spielen zu müssen. Sie weiß nicht, ob sie nicht tiefer Verachtung freien Lauf lassen soll. Dieser Kampf der Liebe (wie Giulia denkt) und der Verachtung (wie Giulia fühlt) kann nicht anders enden, als in einer Fortsetzung der vorgeschriebenen Rolle.
Giulia wird nicht dem Schrei der Zärtlichkeit erliegen, nach der sie sich beim Anblick des weißen Seidenhemdes sehnt. Sie wird nicht einmal der offenen Verachtung erliegen, die das Kavaliertuch in ihr erweckt. Sie weiß, wie viel Eitelkeiten, männliche Eitelkeiten, Kleinlichkeiten undberechnenden Egoismus sie vor sich hat. Giulia überkamen eine absurde Wut und der Wunsch, die weiße Seide zu zerfetzen, eigenhändig den Fetzen männlicher Eitelkeit zu verbrennen. Nein, Giulia wird sich beherrschen, vielleicht
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