Bel Canto (German Edition)
sind schlechte Tage – höre ich eine Stimme neben mir – eine Mädchenstimme: Am Samstag und Sonntag sollen sich die Männer nicht mit ihrem Daheim ausreden! – nur Studenten – »il n’arrive que de étudiants –« die Stimme erzählt (sie hält mich wohl füreinen ganz Unerfahrenen) von Kindern, für die sie zahlt. Als sie aber den Zwanzig-Franc-Schein im Strumpf versteckt und sich überzeugt hat, dass sie keine gefühlige Stimmung wecken muss, begann sie ganz natürlich zu erzählen: Sie fragte mich, wo ich meine Krawatte gekauft habe und sprach über die Zustände in ihrem Etablissement.
Mir vermengen sich professionelle Stimmen: Eine sagt, dass Verheiratete Samstag und Sonntag hier nicht herkommen, weil sie zu Hause keine Ausrede haben. Danach dürfte das schöne Gesicht gegenüber nicht das Gesicht eines verheirateten Mannes sein, denn es ist Samstag. Vielleicht hat hier die Stimme der Grünen Weiden recht, die sagt, er ist Witwer. Nur weil er dunkel gekleidet ist, wendet mein Verstand ein?
Wenn ich in einer Prager Seitenstraße an der Pendeltür eines entlegenen Kinos vorbeigehe, sehe ich eine Szene vor mir. Aus dem dunklen Raum hinter der Pendeltür dringen Wortfetzen und zu Bildern gehörende Töne zu mir. Ich höre ihr Flüstern, Lachen, Weinen, Schreien, Schritte, alles vereint im Chor der Grünen Weiden.
So oft ich durch eine Prager, Berliner, Pariser Nebenstraße gehe und die Pendeltüren eines kleinen Kinos Fetzen von Tönen und Bildern freigeben, höre ich ungesprochene Worte und sehe unsichtbare Bilder. Selbst wenn das in Prag ist, weiß ich nicht, wie das zu beschreiben, wie das auszudrücken ist.
Manchmal kehre ich um und gehe zurück, ich will den Schrei hören, die zornige Stimme, das Flüstern, das gedämpfte Räderrollen auf dem Asphalt. Wird das im Sanatorium enden? (Dort suchte Paolo Zuflucht, als sein Vater wegen Unterschlagungen an der Börse eingesperrtwurde.) Mit einem gleichgültigen Gesicht, das Sie treffen können? Mit sinnlosen Worten, die Sie im Geist aussprechen? Mit Zusammenbruch, Tränen, Türenzuschlagen?
Giulia wird zu Boden sinken, spielt eine Ohnmacht und ihr Liebhaber, seine persönlichen Dinge in eine Tasche packend, wird ihr sagen: » Heul nicht, du alte Hure! «
Er hat die Tür zugeschlagen und Giulia, ob sie will oder nicht, muss aufstehen, die Tränen abwischen, die Nase putzen, vielleicht ein Beruhigungsmittel nehmen.
Das ist eine gespielte Szene, Giulia spielt ihre Verzweiflung, ihre Ohnmacht. Aus dem Film aber erinnere ich mich nur an eine Szene deutlich: wie sie die Hand aus dem Spitzennegligé nach dem Neugeborenen hinstreckt. In beiden Szenen spielte ihre Nase eine Rolle und genau dieses plötzlich unschöne Profil, die Hässlichkeit, die in manchen Augenblicken auch ein noch so schönes Gesicht haben kann, fiel ihrem Geliebten ins Auge, als er seinen Koffer packte, genau dieses Profil ließ sie dem nüchternen Zuschauer jetzt so hässlich erscheinen, dass er es nicht mehr ausgehalten und gesagt hat: » Heul nicht, du alte Hure! «
Als ob man ihr einen Fußtritt versetzt hätte, als ob jemand auf der Bühne, wo der Schauspieler seine beste Szene spielt, gebrüllt hätte: »Genug!«
Mir wird nie die Szene aus einem vollkommen vergessenen alten Stummfilms aus dem Sinn gehen. Madonna Giulia! Ich sehe Eure Arme im Spitzennegligé, das Licht der Lampen spielt in Euren blonden Locken und in den Spitzen, aus denen Ihr die Hand nach dem Neugeborenen ausstreckt. Der Beginn einer Tragödie? Oder das glückliche Ende? Ich glaube, das Neugeborene ist eine eingewickelte Puppe, was darauf –
Madonna Giulia!
Auch ich, als Publikum, sehe die hässlich entstellte Nase. Wenn ich durch eine Seitenstraße in Prag, in Berlin gehe. Ich sehe Euer schönes Gesicht vor mir, höre Eure Stimme, die normale und verständliche Laute bildet; unverständliche Worte werden zu normalen gedruckten Sätzen auf dem Kinoplakat in einer Prager Nebenstraße.
Zurück!, schrie die rote Ampel an der Ecke der Seitenstraße: Zurück!
Madonna Giulia! Wieder sitze ich auf diesen kleinen Stühlen, die in Eurer so wunderbar eingerichteten Wiener Wohnung standen; wieder sitze ich auf deren violettem Samt, oder war er rot, grün? All diese Farben gab es in Eurer Wohnung: Euer Schlafzimmer hatte einen ins Grüne spielenden Ton, aber die schweren, nur des Nachts heruntergezogen Seidenvorhänge, waren dunkelrot, oder wenigstens dunkelrot abgefüttert.
Ist das vielleicht einer von den Stühlen
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