Bel Canto (German Edition)
sicher: Der Redakteur, der Agent, der Regisseur vermuten, sie ist keine große Künstlerin. Sie können sich irren.
Sie hat nicht begriffen, dass sie eigene Sorgen, ihre eigene Vergangenheit haben, worüber sie nichts verlauten lassen. Gern würde sie die Zeitungsartikel vorzeigen, die über sie erschienen sind, die Fotografien –
Erzähl, erzähl, wenn du nicht anders kannst, erzähl von deiner Vergangenheit, erzähl von der kläglichen Aufführung, mit dem von einer Regionalzeitschrift zusammengetriebenen Publikum, veranstaltet von einem Ortsverein, wo die Hausfrauen an das Abendessen denken und den Verliebten die Hände schwitzen, wenn sie sich zärtlich daran halten. Erzähl davon! Davon nicht?
Für den Angestellten der Theateragentur ist der Gedanke, von der Vergangenheit der hier vorbeikommenden Leute etwas profitieren zu können, einfach lächerlich. Von diesen Sujets, die sie feilbieten. Er nimmt ihre Aussage zur Kenntnis und das ist alles, was er tun kann. Vielleicht ist an der Vergangenheit dieses Mädchens wirklich etwas Interessantes, gerade an ihrer Vergangenheit, vielleicht, und dennoch: warum? Interessant wird es erst, wenn es auf die Bühne kommt und ins richtige Licht –
Hier an der Wand sind ausschließlich Fotografien schöner, was heißt schöner, hübscher Mädchen. Sie alle haben wunderbare blaue Augen (wie Giulia), natürlich gelockte (in einigen Fällen) blonde Haare. Sie alle, ja, sie alle – was? –, was spricht beredsamer davon als das Archiv der Theateragentur hier?
Was hat das Mädchen zu bieten (das Giulia darstellt)? Carmen? Den Rosenkavalier? Zwischen den Schenkeln knitternden Atlas, ein Kurvenwunder im Glanz der Scheinwerfer –
Der Agent bleibt gleichgültig. Die Schönste? ›Hier hat jeder nur die Seine‹ * . Jede Stadt ihre. Jedes Mädchen muss seine Vergangenheit hinter sich lassen. Aufhören, von der anständigen Familie zu erzählen, vom Tadel, wenn sie spät nach Hause kommt – diese Sentimentalität interessiert niemanden. Wir werden sehen, was davon für den Erfolg zu gebrauchen ist, was für die Reklame taugen wird. Vorerst ist es überflüssig.
Sagen Sie, Sie sind –? Tschechin? Verheiratet, geschieden?
Was soll das Mädchen zugeben, was ist von Vorteil? Sie spürt, sie muss entscheiden, was von ihrer Vergangenheit wahr sein soll. Der Tag, an dem sie sich auf einem Wohltätigkeitsbasar entschieden hat, Künstlerin zu werden? Als sie bei all ihren Bekannten großen Erfolg hatte? Für den Tag, als der Vater der berühmten Sängerin, die in der Metropolitan auftrat, sie zu seiner Tochter geführt hat, damit die ihre Stimme prüfe?
Schaffen wir uns jetzt aber schnellstens dieses Mädchen vom Hals, so wie der Angestellte der Theateragentur es sich vom Hals geschafft hat. Sie müssen mir die neuesten und erfolgreichsten Stücke ganz Europas beschaffen? Wir haben doch überall unsere Agenten! Wie es sich der Redakteur in Paris, der Filmregisseur in Prag von Hals geschafft hat.
(Ich warnte sie, sich keiner Hoffnung hinzugeben, sie ließ mich aber wissen, ich würde sie einfach wegen ihrerin Prag möglichen Erfolge beneiden. Ich stimmte sie darin nicht um, mir tat nur die Flasche Wermut leid, von der ich wusste, sie würde sie zu dieser Gelegenheit kaufen.)
Der Prolog endet poetisch: über dem kleinen Vordach der Druckerei, irgendwo im Hof der Redaktion, wirbelt eine Staubwolke auf, wirbelt auf durch die Erschütterungen der Maschinen, die Bewegung ihrer Masse. Die alten Zeitungsjahrgänge bilden die Vergangenheit, sie erinnert an Damenmäntel und ihnen ähnliche Verstecke, aus denen neue Zeitungsausschnitte, Fotografien hervorgezogen werden. Sie sind alle gleich, Ruß aus Rotationsmaschinen, alle gleich, sobald sie Vergangenheit werden: Niemand will von erfolgloser Vergangenheit hören. Sie sind alle gleich, diese Vergangenheiten, solange sie die Männer im Overall, mit Biergläsern, mit Stullenpaketen, mit Kaffeetöpfen, solange sie die Vergangenheiten nicht drucken werden – die Erinnerung, die genaue Angabe: Großer Erfolg! Großer Erfolg! Un grand succès!
Wie wollen Sie die Vergangenheit all dieser Leute festhalten? Die des Redakteurs in Paris, des Angestellten der New Yorker Theateragentur, des Prager Filmregisseurs, ganz zu schweigen von der der Passanten, ohne dass wir sie gesehen haben?
Der Autor: Woher kenne ich die Marmorplatte mit der Schminkdose? Ähnelt sie den Pastellen, auf denen eine Schauspielerin dargestellt sein soll? Ein Akt, ein
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