Bel Canto (German Edition)
Stilleben, eine Landschaft an der Wand des Restaurants, wohin die Schauspieler in der Probenpause gehen? Das Garderobenfenster ist milchig, und so kann ich mich nicht vergewissern, an welchem Ort wir sind. In Prag? In irgendeinerfranzösischen Provinzstadt? Ich kann mich nicht vergewissern. Ich könnte fast mit Sicherheit behaupten, es ist eine Prager Theatergarderobe, wenn ich mir nicht im selben Augenblick sicher wäre, dass das Übrige sich anderswo abspielt.
Du erinnerst dich doch an die Garderobe mit der hohen Decke, dem angeschlagenen Waschbecken, mit der Marmorplatte vor dem Spiegel, dem hohen Fenster mit dem hellgrün gestrichenen Rahmen?
Und was würde ich erfahren, wenn ich mit Bestimmtheit wüsste, die Garderobe war zum Beispiel in Lyon? Ich schaute in diesen Spiegel und habe mir die Augen schwarz gemalt. Ich spürte Schweiß unter den Achseln und hatte doch keine Angst, konnte keine haben. Vielleicht war das nur eine Probe.
Ich trage ein Pantherfell und in den Haaren einen Efeukranz: Ich sehe deutlich die grünen Farben, mit denen die Augenlider angemalt sind, sehe deutlich das Ocker.
Auch die leeren Logen, Balkone, all die erregten jungen Zuschauer, die hier zuletzt zum Ball waren. Wenn ich glaube, Bühne und Zuschauerraum sind in einer Kleinstadt, dann sind hier nicht nur Theatergastspiele, sondern auch Bälle, Tanzveranstaltungen und Wohltätigkeitsbasare.
Was, die Schriftsteller treten im Pantherfell und mit einem Efeukranz auf?!
So fingen wir doch alle an! Ich erinnere mich an eine Schauspielerin, heute alt und berühmt, die im Kostüm einer Nymphe, mit Perücke und einer Scheibe Brot in der Hand auf ihren Auftritt wartete.
»Was hat Sie dazu getrieben?«, fragt die Nymphe in der Toga. Damals hatte sie einen schönen und jungen Körper.
»Was hat Sie dazu getrieben?« Wenn der Herr im bürgerlichen Anzug, manchmal mit Zylinder, fragt, antworte ich: Der Hunger, fragt die Nymphe, antworte ich: Die Liebe.
Die Nymphe wird ein paar Tanzbewegungen machen und ich werde ihre schlanke Taille, ihren Busen, ihre gepuderte Haut in meiner Hand fühlen. Das Publikum nimmt an, nichts ist schöner als diese Leidenschaft, obwohl es auch weiß, die Hälfte wird von solchen Schmierenkomödianten wie mir ausgeführt.
Ich schäme mich mehr dafür, dass die Nymphe nur deshalb meine Geliebte war, weil wir zusammen von Stadt zu Stadt zogen, gemeinsam auftraten, in einem Hotel wohnten. Sie kam wirklich aus einer anständigen Familie. Ich hörte sie von ihrer Vergangenheit erzählen. Es erschreckte mich, dass wir die zusammen auf der Bühne gespielte Szene im Hotelzimmer wiederholen. Ständig sah ich meine ockerfarbene Schminke neben ihrer weißen, auch wenn wir schon gewaschen waren und sich unsere Haut von der gewöhnlicher Leute nicht mehr unterschied. Ich schäme mich noch heute, dass ich auf ihre Frage geantwortet habe: Die Liebe. Ich verheimliche das auch. Aber wenn ich eine exzellente Vorstellung in einer europäischen Hauptstadt sehe, gibt es Augenblicke, in denen ich mich wieder und wieder an die hohe Garderobe mit dem Milchglasfenster und dem hellgrünen Rahmen erinnere, an das abgeschlagene Stück Marmorplatte, auf der die Schminkdose steht, die Pastelle, auf denen Ocker und Grün, die Farben der Faune und Nymphen vorherrschen.
War mein Mitspieler ein bürgerlich gekleideter Herr, vielleicht sogar im Zylinder, dann wird er meineAntworten belächeln. Sie alle kennen das künstliche Lachen. Der Herr im Zylinder wird lachen: Spielen Sie gut und Sie werden keinen Hunger leiden! Zeigen Sie uns die wahre Kunst!
Einmal in der Garderobe hat mir die Nymphe, sich vorsichtig die von Tränen verschmierte Schminke abwischend, gestanden, sie liebe mich –
Die blondhaarige Nymphe mit den wunderschönen Haaren (naturgelockt), geringfügig nur durch Peroxyd oder Waschen mit Kamille gebleicht! Der Nymphe macht es nichts aus, dass sie mir kürzlich im Hotelzimmer sagte, sie liebe mich.
EINE ROMANHAFTE GESCHICHTE
Ich werde niemanden mit diesen »interessanten« Schicksalen, »interessanten« Erlebnissen, worin Giulia tatsächlich unerschöpflich ist, zur Last fallen. Ich höre ihr geduldig zu. Das heißt, ich rede ihr nicht aus, dass das, was sie für »interessant« hält und wovon sie glaubt, es müsse jeden interessieren, absolut uninteressant ist – wenigstens aus meiner Sicht. Manchmal lässt sich Giulia von dem vermeintlich Interessanten hinreißen und sagt zu Beginn oder am Ende ihres Erzählens, alles, was sie
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