Bel Canto (German Edition)
Sujet, welches, weiß ich nicht, weil ich oft nicht zuhöre. Deshalb frage ich auch, ob ihr der Theateragent überhaupt zuhört, vielleicht denkt auch er, wie ich, an seine eigenen Angelegenheiten. Daran, wie das Essen war, ob er geliebt wird und ähnliches. Manche dieser Gedanken lassen ahnen, dass Giulia unnützes Zeug redet. Er sitzt vielleicht wie ich und trinkt ein Gläschen, das ihm Giulia mit der Miene der großen Dame eingegossen hat. Vielleicht fragt er auch wie ich: Warum spielt sie mir die große Dame vor? Denn ich weiß, wie viel sie für diese Wohnung zahlen kann. Ich weiß, sie hat kein Engagement. Warum sitze ich hier? Wenn man mich nicht hergeschickt hätte – und so weiter. Warum?
Weil Giulia manchmal sagte, sie hätte ein Sujet für ein erfolgreiches Stück. Vergessen wir nicht, jener Agent oder eine ihm ähnliche Figur, hat keinerlei Einfluss, ist ein genauso kleiner Mann wie ich. Deshalb traut er Giulia nicht, der Person, die Giulia für ihn darstellt. Schließlich scheintihm (wie mir), er könnte ihre Geschichte erzählen. Wie die von jedem, der in sein Büro kommen wird. Im Großen und Ganzen müssen wir ihm recht geben.
Man könnte von der Person (die Giulia darstellt), die ihm eine Tanznummer, ein Lied, ein Filmsujet, ein Theaterstück anbietet, sagen, wo sie geboren wurde: in einer anständigen Familie. Neunundneunzig von Hundert wurden in einer anständigen Familie geboren. In Prag, Berlin, Paris, Wien, Mailand, Tokio. In jeder anständigen Familie gibt es einen, der trinkt, lügt, das Vermögen durchbringt, und tut er das nicht, könnten andere Dinge schief gehen. In jeder anständigen Familie gibt es ein schwarzes Schaf. Vielleicht ist das gerade die Person, die in der Agentur ihre Geschichte erzählen will. Aber sie darf das nicht zugeben. Jeder von uns hält es für seine Pflicht, seine Lebensgeschichte nach Möglichkeit im besten Licht zu präsentieren.
Die Mutter ist früh gestorben. Aber wozu so weit ausholen! Wozu erklären, wie es kommt – Fehltritte durch erbliche Neigung zur Schwindsucht mütterlicherseits, zum Alkoholismus väterlicherseits. Nehmen wir lieber das Grundschema, das uns das Mädchen (dargestellt von Giulia) erzählt: Sie kommt aus einer anständigen Familie. Weder ich, noch der Theateragent haben Interesse an ihrer Vergangenheit. Uns liegt nichts daran. Im Geiste sagen wir uns, ob richtig, oder falsch: das kennen wir alles!
Der Widerstand dieser Geschichte gegenüber entspringt bei mir und dem Agenten aus dem momentanen Widerstand gegen die eigene Vergangenheit. Das ist unvermeidlich. Ein Stück ohne Erfolg braucht seine Exposition. Es muss ›eingängig‹ sein, sagt der Filmregisseur.Das Publikum muss es begreifen. Nämlich die Vergangenheit der Heldin, fügt der Theateragent verdrossen hinzu. Die Katharsis! Schließt sich der Dramaturg an. Wozu, sage ich. Was, wenn sie in Wirklichkeit in einer Pariser Redaktionsstube sitzt? Sie kommt aus einer guten Familie, über die der Redakteur nichts weiß.
Was soll dieses Mädchen mit seiner Vergangenheit anfangen? Wie oft soll sie die Wahrheit sagen? Wie oft, um Erfolg zu haben? Sie kommt aus einer anständigen Familie, wie die meisten Mädchen. Sie ist vielleicht ein wenig verrückter, weil sie sich in den Kopf gesetzt hat, Künstlerin zu werden, schon mit achtzehn – es rechtfertigt sie nur, dass sie schöner als die meisten Mädchen ist; das weiß sie auch.
Sie war verlobt, ja, sie war verlobt und die Familie ihres Verlobten hat die Verlobung gelöst, weil ihr das Benehmen der Braut missfiel. So benimmt sich keine Braut aus guter Familie. Die Mutter war gestorben. Sie hätte Trost in der Familie ihres Verlobten finden können. Sie aber hat die Befreiung von der mütterlichen Überwachung ausgenutzt.
Soll sie von ihrem ersten Liebhaber erzählen? Nämlich – dem Mann, den sie liebte (das sind die Worte von Mädchen wie Giulia), der zu ihr gekommen ist, als sie Gesang studierte? Vom Krankenhaus? Zum Glück hatte und hat sie eine ausgezeichnete Gesundheit.
Wie alt ist sie? Nicht mehr die Jüngste. Sie studierte bei den besten Lehrern Gesang. Sie sang –
Der Redakteur, der Theateragent, der Filmregisseur, von pausenlos andauernden Besuchen überhäuft, klopfen ungeduldig die Zigarette im Aschenbecher ab: Was können wir für Sie tun?
Das Mädchen (das Giulia darstellt) strahlt, sie ist überzeugt, morgen werden die Zeitungen mit ihrem Bild und einem Artikel über sie erscheinen. Doch sie ist sich nicht
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