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Bell ist der Nächste

Bell ist der Nächste

Titel: Bell ist der Nächste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Dolan
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mitgehen können«, sagte ich.
    »Ich hätt’s auch beinahe getan, aber dann habe ich noch mal darüber nachgedacht. Wenn jemand Sie töten will, würden Sie dann lieber bei Ihrer Frau und Ihrer Tochter sein, oder möglichst weit weg von ihnen?«
    »Ich verstehe.«
    Er gebrauchte seine gesunde Hand, um sich die Haare aus der Stirn zu streichen. »Abgesehen davon habe ich hier meine Verpflichtungen. In der Klinik, in der ich arbeite, herrscht im Moment Personalmangel. Ich kann mich nicht einfach unbefristet beurlauben lassen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »So wie ich es sehe, hat die Klinik mir eine Chance gegeben, als sie mich eingestellt haben. Ich will die Leute jetzt nicht hängen lassen.«
    Er hielt inne und sah zu den Fotos, die an der Wand gegenüber den Fenstern hingen. Auf einem war seine Tochter zu sehen, ein flachsblondes Mädchen mit blauen Augen.
    »Die Polizei hat mir vorgeschlagen, in ein Hotel zu gehen«, sagte er. »Aber hier gibt es immerhin eine Alarmanlage, und wenn ich zu Hause bin, steht draußen ein Streifenwagen. Ich habe das Gefühl, ich muss hier sein. Ich will das Haus nicht seinem Schicksal überlassen. Ergibt das einen Sinn?«
    »Für mich schon.«
    Bell schwieg, schien zu überlegen, was er noch sagen könnte. Ich fand, dass er gelassen auf seine Umgebung blickte – ein anständiger Mann, der ein normales Mittelschichtleben führte, ein Mann, der für seine Familie sorgte und sein Haus nicht aufgeben wollte. Dann fiel mir wieder ein, wer er einmal war, und mir kam eine Frage in den Sinn.
    »Wie sind Sie denn in den Great-Lakes-Bankraub hineingeraten?«
    Er drehte sich wieder zu mir um und rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Ich war zwanzig. Ich war ein Idiot.«
    »Die wenigsten Zwanzigjährigen versuchen, eine Bank auszurauben«, sagte ich. »Da muss noch mehr dahinterstecken. Ich weiß, dass Floyd Lambeau Sie rekrutiert hat. Wie hat er Sie denn überzeugt?«
    Er schüttelte ganz leicht den Kopf. »Das würden Sie nicht verstehen.«
    »Versuchen Sie’s doch einfach mal.«
    Ich ließ ihm Zeit, nachzudenken. Nach einer Weile sagte er: »Die Sache mit Floyd ist die … er hat überhaupt nicht versucht, mich davon zu überzeugen, irgendetwas zu tun. Er hatte so eine Art, sich zurückzulehnen und zuzuhören. Und er hatte gütige Augen.« Bell zögerte. »Ich drücke mich nicht sehr gut aus.«
    »Sprechen Sie ruhig weiter.«
    Er räusperte sich. »Heute weiß jeder, dass Floyd Lambeau nichts als ein geschickter Schwindler war. Aber als ich ihn kennengelernt habe, wusste ich das natürlich nicht. Ich war auf dem College. Er hat in einem Seminar über die Kultur der amerikanischen Ureinwohner Gastvorträge gehalten. Er war nur drei oder vier Wochen da und erzählte von den Lebensbedingungen in den Indianerreservaten. Viele leiden unter hoher Arbeitslosigkeit. Alkoholismus. Die Art von Armut, die man sonst in Dritte-Welt-Ländern findet. Das Seminar fand abends statt, und ein paar Leute standen hinterher immer noch zusammen. Floyd ging mit uns dann in ein Café oder ein Restaurant. Das erste Mal ging ich mit, um ein Mädchen zu beeindrucken, das ich mochte. Ich hörte Floyd gerne zu. Ich hatte keine Ahnung von den Dingen, über die er redete, aber er war ganz offensichtlich sehr intelligent. Und er war ein Mann der leisen Töne. Er wirkte bescheiden.«
    Bell strich sich über die Wange. »Eines Abends waren die anderen aus der Gruppe schon nach Hause gegangen, nur Floyd und ich waren noch da. Ich weiß noch, dass ich ihm gegenübersaß, auf dem Tisch zwischen uns jede Menge leere Gläser. Ich weiß noch, dass er mich ansah, als nähme er mich zum ersten Mal wahr, als bedauerte er, mir nicht schon früher mehr Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Ich weiß noch, dass er mich fragte: ›Was möchten Sie in Ihrem Leben erreichen, Mr Bell?‹
    Darüber musste ich nachdenken. Was wollte ich eigentlich? Ich war ein junger Mann aus dem Mittleren Westen, mein Vater war Buchhalter. Meine Mutter hatte vier Kinder großgezogen und war nie etwas anderes als Hausfrau gewesen. Sie hatten alles dafür getan, dass wir aufs College gehen konnten – dasselbe College, auf das schon mein Vater gegangen war. Niemand hatte mich je gefragt, was ich in meinem Leben erreichen wollte, und die beste Antwort, die ich geben konnte, war, dass ich so sein wollte wie mein Vater. Ich wollte einen Abschluss machen und einen Beruf haben. Vielleicht würde ich Buchhalter werden. Vielleicht auch Arzt. Ich

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