Belladonna
Jahre alt, aber diese vierzig Jahre waren von zu viel Rauchen und zu viel Trinken geprägt. Sie hatte dunkelblondes Haar mit ein paar grauen Strähnen. Von ihren Lippen gingen in alle Richtungen tief gefurchte Falten aus.
Ihr nasaler Tonfall und das rasante Tempo, mit dem sie sprach, vermittelten Jeffrey den Eindruck, er unterhielte sich mit einem Waldhorn. Jede Erwiderung Jeffreys brauchte ihre Zeit, weil er erst darauf warten musste, dass sein Hirn ihre Worte übersetzt hatte. Er merkte schon sehr bald, dass Moon diese Langsamkeit für ein Zeichen von Beschränktheit hielt, aber daran konnte er auch nichts ändern.
Als sie durchs Dezernat gingen, sagte sie über die Schulter hinweg etwas zu ihm. Er ließ ihre Worte nochmals in Zeitlupe abspulen und kam zu dem Schluss, dass sie gesagt haben
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musste: «Erzählen Sie mir von Ihrem Fall, Chief.»
Er gab ihr einen kurzen Abriss der Ereignisse, seit Sibyl Adams gefunden worden war, wobei er seine Verbindung zu Sara nicht erwähnte. Er nahm wahr, dass seine Darstellung nicht schnell genug vorankam, denn Moon unterbrach ihn immer wieder mit Fragen, die er gleich darauf ohnehin beantwortet hätte, wenn sie ihm nur Zeit gelassen hätte, seinen Satz zu Ende zu bringen.
«Sie sind also ins Haus meines Jungen eingedrungen», sagte sie. «Haben Sie auch die ganze Jesus-Scheiße gesehen?» Sie verdrehte die Augen. «Die Neunmillimeter ist nicht zufällig in Ihre Hosentasche reinmarschiert, oder, Sheriff Tolliver?»
Jeffrey warf ihr einen - wie er hoffte - drohenden Blick zu.
Sie reagierte mit einem Lachanfall, der ihm die Trommelfelle zu sprengen drohte. «Der Name kommt mir bekannt vor.»
«Wie meinen Sie?»
«Linton. Tolliver ebenfalls.» Sie stemmte ihre winzigen Hände in die schmalen Hüften. «Ich bin sehr gewissenhaft mit Benachrichtigungen, Chief. Ich habe Sara vielleicht fünf-, sechsmal angerufen, um sie wissen zu lassen, wo sich Jack Allen Wright befindet. Es ist mein Job, die Opfer einmal im Jahr zu benachrichtigen. Ihr Fall ereignete sich doch vor zehn Jahren?»
«Zwölf.»
«Dann habe ich also mindestens sechsmal mit ihr
gesprochen.»
Er rückte mit der Wahrheit heraus, denn er wusste, dass er erwischt worden war. «Sara ist meine Exfrau. Sie war eines der ersten Opfer von Wright.»
«Und trotzdem lässt man Sie diesen Fall bearbeiten?»
«Dieser Fall untersteht mir, Miss Moon», antwortete er.
Sie sah ihn an mit einem Blick, der wahrscheinlich bei ihren
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auf Bewährung Entlassenen Eindruck machte, aber Jeffrey kalt ließ. Er war über einen halben Meter größer als Mary Ann Moon und würde sich von dieser kleinen Portion Yankee-Hass nicht einschüchtern lassen.
«Wright ist ein Depo-Freak. Wissen Sie, was ich damit sagen will?»
«Er nimmt es offenbar gern.»
«Das reicht weit zurück bis in seine Anfangszeit, gleich nach Sara. Haben Sie Fotos von ihm gesehen?»
Jeffrey schüttelte den Kopf.
«Folgen Sie mir», sagte Moon.
Er kam ihrer Aufforderung nach und gab sich alle Mühe, ihr nicht in die Fersen zu treten. Sie war in allen Dingen schnell, außer beim Gehen, seine Schrittlänge war mindestens das Doppelte von ihrer. Sie blieb vor einem kleinen Büroraum stehen, der zum Bersten mit Aktenkartons gefüllt war. Sie stieg über einen Stapel Handbücher und nahm eine Akte von ihrem Schreibtisch.
«Hier drin ist das reine Chaos», sagte sie, als ob es mit ihr nichts zu tun hätte. «Hier.»
Jeffrey öffnete den Aktenordner und sah das Foto eines jüngeren, schlankeren und weniger weiblichen Jack Allen Wright vor sich. Es war an das Deckblatt geheftet. Er hatte mehr Haare auf dem Kopf, und sein Gesicht war hager. Seine Figur entsprach der eines Mannes, der täglich drei Stunden lang Gewichte stemmt, und seine Augen waren von einem
durchdringenden Blau. Jeffrey musste an die wässrigen Augen denken, in die er noch vor kurzem geblickt hatte. Und es fiel ihm auch ein, dass man ihn unter anderem auch deswegen hatte identifizieren können, weil Sara sich an seine klaren blauen Augen erinnert hatte. Wrights Aussehen hatte sich sehr verändert, seit er Sara überfallen hatte. Das hier war der Mann, den Jeffrey erwartet hatte, als er Wrights Haus durchsuchte. Das
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hier war der Mann, der Sara vergewaltigt ha tte, der sie der Möglichkeit beraubt hatte, Jeffrey ein Kind zu schenken.
Moon blätterte durch die Akte. «So sah er bei seiner Entlassung aus», sagte sie und zog ein weiteres Foto hervor.
Jeffrey nickte, denn er sah den
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