Belladonna
aber sie achtete nicht darauf.
«Es ist schon sehr lange her», antwortete Jeb schließlich. «Ich hab gerade heute an sie gedacht - bei all dem, was so passiert ist.»
Sara wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war es leid, an den Tod erinnert zu werden. Sie wollte Jeb auch nicht trösten. Auf diese Verabredung war sie eingegangen, um sich davon abzulenken, was in letzter Zeit geschehen war, nicht um wieder daran erinnert zu werden.
Sie stand vom Tisch auf und fragte: «Möchtest du vielleicht etwas anderes trinken?» Dabei ging sie zum Kühlschrank. «Ich habe Coke, ein bisschen Kool-Aid, Orangensaft.» Sie öffnete die Tür, und das schmatzende Geräusch erinnerte sie an etwas. Sie wusste nur nicht genau zu sagen, was es war. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Das Gummifutter an den Türen der Notaufnahme im Grady hatte ganz genau dasselbe Geräusch verursacht, wenn sie geöffnet wurden. Noch nie zuvor war ihr die Ähnlichkeit bewusst geworden, aber sie war unbestreitbar.
Jeb sagte: «Coke ist prima.»
Sara griff in den Kühlschrank und tastete nach den
Getränkedosen. Sie hielt inne, als ihre Hand eine der wohl bekannten roten Dosen berührte. Leichter Schwindel erfasste sie, als hätte sie zu viel Luft in den Lungen. Sie schloss die Augen, bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sara
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befand sich wieder in der Notaufnahme. Die Türen öffneten sich mit diesem schmatzenden Geräusch. Ein junges Mädchen wurde auf einer Krankentrage hereingefahren. Die Sanitäter machten laut ihre Angaben, erste Zugänge wurden gelegt, und das Mädchen wurde intubiert. Es befand sich im Schockzustand, die Pupillen waren geweitet, der Körper fühlte sich warm an. Die Temperatur wurde angesagt: vierzig Grad. Der Blutdruck schoss immer höher. Zwischen den Beinen heraus blutete das Mädchen sehr stark.
Sara übernahm den Fall und versuchte sofort, die Blutung zu stoppen. Das Mädchen krampfte und krümmte sich, riss sich die Schläuche heraus und stieß mit den Füßen das
Instrumententablett von der Trage. Sara beugte sich über das Mädchen und versuchte zu verhindern, dass es noch mehr Schaden anrichtete. Von einer Sekunde zur anderen hörten die Zuckungen auf, und Sara dachte schon, die Kleine sei gestorben.
Doch ihr Puls war stark. Ihre Reflexe waren hingegen schwach, aber registrierbar.
Eine Vaginaluntersuchung ergab, dass das Mädchen erst kürzlich eine Abtreibung durchgemacht hatte, die jedoch nicht von einem qualifizierten Arzt vorgenommen worden war. Ihre Gebärmutter war grässlich zugerichtet, ihre Scheidenwände waren zerkratzt und so gut wie zerfetzt. Sara rettete, was zu retten war, doch der Schaden war angerichtet. Ob das Mädchen wieder gesund wurde, lag jetzt an ihren Selbstheilungskräften.
Sara ging hinaus ans Auto, um ihr Shirt zu wechseln, bevor sie sich mit den Eltern der Kleinen unterhielt. Sie fand sie im Wartebereich und gab ihre Prognose ab. Dabei benutzte sie die entsprechenden Floskeln, sprach von ‹verhaltenem Optimismus›
und von ‹kritisch, aber stabil›. Nur überlebte die Kleine die nächsten drei Stunden nicht, sie hatte weitere Fieberkrämpfe bekommen.
Zu dem Ze itpunkt ihrer ärztlichen Laufbahn war das dreizehnjährige Mädchen die jüngste Patientin, die Sara verloren
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hatte. Die anderen Patienten, die unter Saras Obhut nicht überlebt hatten, waren älter oder schlimmer krank gewesen. Es war zwar traurig, sie zu verlieren, doch ihr Tod kam nicht unerwartet. Sara war noch völlig entsetzt über die Tragödie, als sie zum Wartebereich ging. Die Eltern des Mädchens wirkten nicht minder schockiert. Sie hatten nicht die geringste Ahnung von der Schwangerschaft ihrer Tochter gehabt. Soweit sie wussten, hatte die Kleine noch nicht einmal einen Freund gehabt. Sie konnten einfach nicht verstehen, wie ihre Tochter schwanger sein konnte, und noch viel weniger, wieso sie tot sein sollte.
«Mein Baby», flüsterte der Vater. Mit einer Stimme, die vor Kummer beinahe versagte, wiederholte er ständig den Satz: «Sie war aber doch mein Baby.»
«Sie müssen sich irren», sagte die Mutter. Sie kramte in ihrer Handtasche und brachte eine Brieftasche zum Vorschein. Bevor Sara sie davon abhalten konnte, war ein Foto gefunden ein Schulfoto eines jungen Mädchens in Cheerleader-Uniform. Sara wollte sich das Foto nicht anschauen, aber die Frau war anders nicht zu trösten. Sara sah sich das Foto ein zweites Mal an, diesmal aufmerksamer. Das Mädchen hielt die Pompons
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