Belladonna
sie: «Ich denke schon. Wir haben beide letztes Jahr in der Mittelschule Berufsberatung abgehalten. Und dann bin ich ihr ja, wie du weißt, manchmal in der Bibliothek begegnet.»
«In der Bibliothek?», staunte Jeffrey. «Ich dachte, sie war blind.»
«Aber man hat dort doch auch Hörbücher.» Sie blieb direkt vor ihm stehen und verschränkte die Arme. «Du, ich muss dir was sagen. Lena und ich hatten vor einigen Wochen Streit.»
Offensichtlich war er überrascht. Sara hatte es auch überrascht, es gab nicht viele Leute in der Stadt, mit denen sie nicht auskam. Aber Lena Adams gehörte offenbar dazu.
Sara erläuterte: «Sie hat Nick Shelton vom GBI angerufen und um einen toxikologischen Bericht zu einem Fall nachgesucht.»
Jeffrey schüttelte verständnislos den Kopf. «Wieso denn das?»
Sara zuckte die Achseln. Sie wusste immer noch nicht, warum Lena sie übergangen hatte, zumal bekannt war, dass Sara sehr kollegial mit Nick Shelton zusammenarbeitete, dem Außenagenten des Georgia Bureau of Investigation für Grant County.
«Und?», beharrte Jeffrey.
«Ich weiß nicht, was Lena damit erreichen wollte, dass sie Nick direkt anrief. Wir haben es dann bereinigt. Es floss zwar kein Blut, aber ich würde auch nicht behaupten, dass wir als Freundinnen auseinander gegangen sind.»
Jeffrey zuckte die Achseln, als wolle er sagen: Was kann man da schon machen? Lena hatte sich den Ruf erworben, gern andere Leute vor den Kopf zu stoßen. Als Sara und Jeffrey noch verheiratet gewesen waren, hatte Jeffrey oft über Lenas Temperamentsausbrüche geklagt.
«Wenn sie» - er hielt inne -, «wenn sie vergewaltigt worden ist, Sara. Ich weiß ja nicht.»
«Fangen wir an», antwortete Sara eilig und ging an ihm vorbei in den Leichenschauraum. Sie blieb vor dem Materialschrank stehen, weil sie einen Chirurgenkittel suchte. Sie blieb, die Hände an den Schranktüren, stehen und spulte im Geiste noch einmal ihr Gespräch ab. Wie war aus einer forensischen Beurteilung eine Diskussion darüber geworden, ob Sibyl Adams nicht nur ermordet, sondern auch noch vergewaltigt worden war, wobei sie Jeffreys latente Empörung spürte.
«Sara?», fragte er. «Stimmt was nicht?»
Sara fühlte Zorn über seine dumme Frage in sich aufsteigen. «Ob etwas nicht stimmt?» Sie fand den Kittel und knallte die Türen wieder zu, und zwar mit solcher Wucht, dass der Metallrahmen schepperte. Sara drehte sich um und riss die sterile Verpackung auf. «Was nicht stimmt, ist, dass ich es leid bin, von dir ständig gefragt zu werden, ob etwas nicht stimmt, wenn doch verdammt klar ist, was nicht stimmt.» Sie hielt inne, riss den Kittel geradezu aus der Verpackung. «Denk doch mal nach, Jeffrey. Heute ist eine Frau buchstäblich in meinen Armen gestorben. Und es war keine Fremde, sondern eine Frau, die ich kannte. Ich sollte jetzt zu Hause sein, ausgiebig duschen oder mit den Hunden spazieren gehen, aber stattdessen muss ich jetzt da rübergehen und sie aufschneiden, sie noch schlimmer zurichten, als sie es bereits ist. Damit ich sagen kann, ob du anfangen solltest, alle Perversen der Stadt zum Verhör zu holen oder nicht.»
Ihre Hände zitterten vor Zorn, als sie den Kittel überzuziehen versuchte. Einen Ärmel konnte sie nicht erreichen, und sie drehte sich, um besser an ihn heranzukommen. Jeffrey sprang ihr bei.
Übellaunig fuhr sie ihn an: «Ich schaffs schon alleine.»
Er hob ihr die Handflächen entgegen, als wolle er sich ergeben. «Tut mir Leid.»
Sara plagte sich mit den Bändern des Kittels und brachte es schließlich fertig, sie falsch zu verknoten. «Scheiße», zischte sie und versuchte krampfhaft, den Knoten wieder zu lösen.
«Ich könnte Brad dazu kriegen, mit den Hunden Gassi zu gehen», erbot sich Jeffrey.
Sara ließ resigniert die Hände sinken. «Darum geht es doch gar nicht, Jeffrey.»
«Weiß ich auch», erwiderte er und näherte sich ihr so vorsichtig wie einem tollwütigen Hund. Er nahm die Bänder, und sie sah nach unten, beobachtete, wie er den Knoten löste. Sie ließ ihren Blick zu seinem Hinterkopf wandern, wo sie ein paar graue Strähnen zwischen den schwarzen Haaren bemerkte. Am liebsten hätte sie ihn telepathisch dazu gebracht, dass er sie tröstete und nicht immer nur versuchte, aus allem einen Witz zu machen. Sie wünschte sich, dass er wie durch ein Wunder Einfühlungsvermögen entwickelte. Aber nach zehn Jahren hätte sie es besser wissen müssen.
Er lockerte den Knoten mit einem Grinsen, als hätte er durch diese
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