Belladonna
Julia Matthews diesmal fest entschlossen gewesen, ihr Leben zu beenden. Fraglos hatte die junge Frau sehr genau gewusst, was sie tat.
Sara war flau im Magen. Am liebsten hätte sie die junge Frau ins Leben zurück geschüttelt, von ihr verlangt weiterzuleben, sie gefragt, wie sie all das hatte durchstehen können, was ihr in den vergangenen Tagen geschehen war, nur um sich dann das Leben zu nehmen. Es schien so, als hätten die Gräuel, die Julia Matthews überlebt hatte, sie am Ende auch umgebracht.
«Alles okay mit dir?», fragte Jeffrey. Er sah sie besorgt an.
«Ja», bekam Sara mit Mühe heraus. Sie fragte sich, ob es stimmte. Sie hatte das Gefühl, wie eine offene Wunde zu sein, die nicht verschorfen wollte. Sara wusste, wenn Jeffrey jetzt einen Annäherungsversuch machte, würde sie darauf eingehen. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie gut es tun würde, sich von ihm in die Arme nehmen zu lassen, seine Lippen auf den ihren zu spüren, seine Zunge in ihrem Mund. Ihr Körper verlangte schmerzlich nach ihm, wie es sie seit Jahren nicht mehr nach ihm verlangt hatte. Es war nicht Sex, was sie sich wünschte, sie brauchte einfach nur die Bestätigung, dass er da war. Sie wollte sich beschützt fühlen. Sie wollte zu ihm gehören. Sara hatte vor langer Zeit erfahren, dass Jeffrey keine andere Möglichkeit kannte, als ihr durch Sex diese Gefühle zu vermitteln.
Von der anderen Seite des Tisches fragte Jeffrey: «Sara?»
Sie öffnete den Mund und wollte ihm schon einen entsprechenden Antrag machen, aber hielt sich dann doch zurück. So viel war in den vergangenen paar Jahren geschehen. So viel hatte sich verändert. Der Mann, den sie wollte, existierte eigentlich gar nicht mehr. Sara war nicht einmal davon überzeugt, dass es ihn je gegeben hatte.
Sie räusperte sich. «Ja?»
«Möchtest du das hier aufschieben?», fragte er.
«Nein», antwortete Sara schroff. Insgeheim schalt sie sich für den Gedanken, Jeffrey zu brauchen. In Wahrheit tat sie es nämlich nicht. Sie war ohne ihn so weit gekommen, und ganz gewiss konnte sie auch noch weiter kommen.
Sie tippte mit dem Fuß auf die Fernbedienung des Diktiergeräts und sagte: «Vor mir liegt die nicht balsamierte Leiche einer dünnen, aber gut gebauten und gut ernährten jungen erwachsenen weißen Frau mit einem Gewicht von» -Sara blickte über Jeffreys Schulter zur Tafel, auf der sie einige Notizen gemacht hatte - «einhundertundzwölf Pfund und einer Größe von einem Meter zweiundsechzig.» Sie stellte das Aufnahmegerät ab und atmete tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie bekam nur schwer Luft.
«Sara?»
Sie schaltete das Gerät wieder an und wand te sich kopfschüttelnd Jeffrey zu. Dass sie sich noch vor ein paar Minuten Mitgefühl von ihm gewünscht hatte, bereitete ihr jetzt Unbehagen. Es kam ihr vor, als hätte sie sich eine Blöße gegeben.
Sie diktierte: «Das Erscheinungsbild der Verstorbenen entspricht dem angegebenen Alter von zweiundzwanzig. Die Leiche ist für einen Zeitraum von nicht weniger als drei Stunden gekühlt worden und fühlt sich noch immer kalt an.» Sara hielt inne und räusperte sich wieder. «Totenstarre ist in den oberen und unteren Extremitäten eingetreten, und Totenflecke sind auf der hinteren Seite der Leiche an Rumpf und Extremitäten zu sehen, außer an den abhängigen, nicht aufliegenden Körperpartien.»
Und so ging sie weiter, diese klinische Beschreibung einer Frau, die vor ein paar Stunden noch am Leben gewesen war, wenn auch übel zugerichtet, die vor Wochen noch zufrieden, wenn nicht gar glücklich gewesen war. Sara listete die Merkmale von Julia Matthews' äußerer Erscheinung auf und stellte sich dabei vor, was die Frau durchgemacht haben musste. War sie wach, als der Sexualverbrecher ihr die Zähne herausgebrochen hatte, um sie oral zu vergewaltigen? War sie bei Bewusstsein, als ihr das Rektum aufgerissen wurde? Hatten die Drogen ihr Schmerzempfinden gedämpft, als sie auf den Fußboden genagelt worden war? Eine Autopsie konnte nur die physischen Verletzungen aufdecken; die geistige Wahrnehmung der jungen Frau und ihre Bewusstseinsstufe im Augenblick des Verbrechens würden für immer ein Rätsel bleiben. Niemand würde je wissen, was sie gedacht hatte, als sie überfallen wurde. Niemand würde je genau das sehen, was die junge Frau gesehen hatte. Sara vermochte nur zu raten, und die Bilder, die sie damit heraufbeschwor, gefielen ihr ganz und gar nicht. Wieder sah sie sich selbst
Weitere Kostenlose Bücher