Ben Driskill - 02 - Gomorrha
Augen.
Driskill kannte das Plakat wie sein eigenes Gesicht. Es war allgegenwärtig gewesen. An Reklametafeln, im Fernsehen, auf Wahlkampfabzeichen, in Zeitungen, darunter die berühmte farbige Doppelseite in USA Today – jeder konnte sich das Gesicht Taylors heraussuchen, das ihm am besten gefiel. Unter den beiden Gesichtern war ein schlankes, blitzendes Marineinfanterieschwert, das wie eine Samurai-Waffe aus Spiegelglas aussah. In Karmesinrot war auf der Klinge eingraviert: Im Frieden und im Krieg. Darunter stand ganz groß: WÄHLT FÜR EIN GRÖSSERES AMERIKA! Nirgends war der Name des Kandidaten oder seine Partei erwähnt, wahrscheinlich zum erstenmal in der Geschichte des politischen Wahlkampfes in Amerika.
Das Beste, das die Bonner-Kampagne gegen dieses Plakat tun konnte, war eine Bemerkung, die der Kandidat zum Vizepräsidenten, David Manders, Anfang Oktober machte. Er blickte auf die Menge und fragte, was sie über das Plakat dächten. Alle buhten wie gute Demokraten, und Manders sagte: »Es repräsentiert den Mann perfekt … doppelgesichtig … und ohne jegliche Hinweise, um den wahren Mann zu identifizieren.« Die Demokraten hatten diesen Satz für den Rest des Wahlkampfes mit unbegrenzter Laufzeit benutzt.
Aber irgend etwas stimmte nicht mit Taylors Plakat. Als Driskill es erkannte, lachte er laut. Tarlow hatte daraus eine Schießscheibe für Pfeile gemacht. Außerdem hatte er über und zwischen die beiden Gesichter Sherman Taylors Bob Hazlitts Kopf – eine schwarzweiße Zeitungsaufnahme – geklebt. Mehrere uralte Pfeile steckten im Plakat. Tarlows letzter Scherz.
Driskill nahm die karierte Decke vom Bett, als er neben dem Telefon den Stapel Klebezettel mit Eselsohren sah. Auf dem neunten Blatt entdeckte er etwas, das ihn an etwas erinnerte, wenngleich sehr schwach.
Eine Telefonnummer mit der Ortsnetzkennzahl von Boston: 617.
Diese Nummer kannte Driskill. Er kramte in der Erinnerung und murmelte die Nummer vor sich hin. Dann kam ihm die Erleuchtung: Sie stammte aus dem Wahlkampf vor drei Jahren. Es war die Telefonnummer von Brad Hokansen, dem Vorsitzenden des Spendenkomitees für Bonners Kampagne in Neuengland. Tarlow hatte mit Hokansen zu tun gehabt. Jedenfalls sah es so aus.
Plötzlich war Driskill hellwach. Das war etwas Handfestes. Etwas, das eine Bedeutung für Driskill hatte. Ein weiterer Name außer dem Beckermans, des Vorsitzenden des DNC.
Jetzt war es kurz nach halb fünf. Er wählte die Nummer und sprach kurz mit Brad Hokansen. Tatsache war, daß er ihn halb zu Tode erschreckte. Lächelnd legte er auf.
Er spülte sein Glas aus und trocknete es ab. Er vergewisserte sich, daß er den Umschlag mit dem Blatt mit der seltsamen Schlangenlinie bei sich hatte, ließ den Buick an und fuhr langsam durch den dunklen Wald zurück.
Endlich erreichte er die Straße und dann den Highway. Dort nahm er die erste vielversprechend aussehende Abzweigung. Auf dem Saw Mill River Parkway fuhr er nach Norden, in Richtung Boston.
KAPITEL 7
Driskill fuhr in Boston mit starkem Rückenwind ein, der ihn von hinten mit Regen peitschte, aber auch einen Funken Hoffnung in sein Herz brachte. Auf den nassen Straßen glänzten die Rücklichter der Autos. Er schlängelte sich durch den dichten Verkehr die Mass Avenue hinauf, verirrte sich und fuhr in die allgemeine Richtung Radcliffe weiter, dann zurück zum Harvard Square. Er parkte an einer großen Rampe, die zu einem Motel gehörte, ging zurück zum Platz und telefonierte von einem öffentlichen Telefon aus. Hokansen nahm nach dem ersten Klingeln ab.
»Hier bin ich, Brad. Reißen Sie sich vom Sonntagabendspiel der Red Sox los, und kommen Sie in den Muffinladen an der Ecke des Platzes.«
»Driskill, Sie sind ein unglaubliches Arschloch!« Er flüsterte. Es klang, als hätte man gerade einen Vakuumverschluß durchbohrt. »Was machen Sie?«
»Ich bin fröhlich wie immer. Regen Sie sich ab.«
»Sie meinen, den Laden, wo wir uns beim letztenmal getroffen haben?«
»Keinen anderen, Kumpel. Und beeilen Sie sich. Ich muß heute noch zurück nach New York.«
Brad Hokansen war Präsident einer uralten Bostoner Finanzinstitution, der North Shore Treuhand. Er kümmerte sich um die netten Vermögen, die in den Händen überzüchteter, ungebildeter und nur wenig motivierter Abkömmlinge der Aristokraten von Beacon Hill lagen. Das Geld war vor langer Zeit verdient worden, als die Genpools der Familien gesund und reich bestückt gewesen waren. Als die Haie in den Teichen
Weitere Kostenlose Bücher