Benkau Jennifer
das nicht wirklich besser, trotzdem blieb er reglos liegen. Er genoss die Ambivalenz, sie wecken zu wollen, während er ihren Schlaf hütete. Der Tag war jung, und so schön es war, sie friedlich und voller Vertrauen in ihn schlafen zu sehen, so sehr bedauerte er die voranschreitende Zeit. Seine Hand glitt über seidige Haut ihren Bauch hinab und blieb auf ihrer schlanken Hüfte liegen. Im Schlaf wirkte sie noch kleiner, ganz schwach und zerbrechlich. Oh, dabei war sie alles andere als das.
Der Hauch eines schlechten Gewissens streifte ihn zaghaft. Die Sechziger, sowie die Zeiten danach waren nicht spurlos an Samuel vorbeigegangen und hatten seine Ansichten über Sex durchaus verändert, aber ganz ausradieren ließen sich die Konventionen von gestern wohl nicht. Loszulassen war so schwer, auch wenn heutzutage eine Schwangerschaft mit all ihren Risiken zuverlässig verhindert werden konnte. Es war dennoch nicht rechtens gewesen, sich gehen zu lassen. Dafür so schön, befreiend und längst überfällig.
Die Erinnerungen an die letzte Frau, mit der er das Bett geteilt hatte, kratzten weiter an der Illusion von Frieden, wollten sie zerstören. Andrea war seinetwegen gestorben. Er hatte sich so oft geschworen, dass er es nie wieder so weit kommen lassen würde, selbst wenn dies bedeutete, für immer allein zu bleiben.
Helena brummte leise im Schlaf, erst darauf spürte er, dass er den Atem angehalten und jeden Muskel angespannt hatte.
Wie leicht es diesem harmlosen Mädchen fiel, die Prinzipien vieler Jahre zunichtezumachen. Sie hatte ihn gewollt, ebenso sehr gewollt wie er sie. Und wie erschreckend leicht es ihm wiederum gefallen war, sich dem hinzugeben. Seine Vergangenheit sollte ihn lehren, doch stattdessen flüchtete er in neue Erfahrungen und klammerte sich an die Gewissheit, es diesmal besser zu machen. Immer noch der naive, alte Kindskopf, schalt er sich, doch er musste schmunzeln.
„Willst du den Kindskopf eine Weile behalten?“, fragte er fast ohne jeden Laut nah an ihrem Scheitel. Sie hob im Schlaf die Hand von seinem Bauch und legte sie ihm auf die Brust.
„Tatsächlich? Wie schön, denn er würde auch gern bleiben.“
Eine gute Stunde blieb er noch liegen, doch dann entspannte sich sein Körper zu sehr und er drohte einzuschlafen. Eine seiner Regeln lautete, niemals zu schlafen. Schlaf bedeutete, die Kontrolle aufzugeben. Nur Kontrolle hielt die Menschen in seiner Nähe am Leben.
Er schob Helenas Kopf behutsam aufs Kissen und stand auf. An den Wänden ihres Schlafzimmers hingen Fotos, die meisten schlicht mit Reißzwecken an die Tapete gepinnt. Amüsiert betrachtete er die Bilder, die Helena mit Freundinnen oder Freunden zeigten. Fast immer zog sie Grimassen für die Kamera oder lachte unbeschwert. Ein paar gerahmte Sepia-Fotos hingen abseits und erregten seine Aufmerksamkeit. Sie besaßen Knicke, kleine Risse und waren ausgeblichen, ehe man sie unter schützendes Glas gelegt hatte. Die auf ihnen abgelichtete Frau war ein Ebenbild Helenas, nur dass ihre Haare lang und auf den meisten Bildern zu einem Zopf geflochten waren. Das Lächeln was das gleiche, ebenfalls die schmale Nase, die ein Stückchen zu lang erschien. Die knielangen Kleider, unter denen Petticoats hervorblitzten, hätten auch Helena gut gestanden. Es musste sich um ihre Großmutter handeln, auf einem der Fotos war am unteren Bildrand „Juni 1956“ vermerkt. Kurz überlegte Samuel, wie alt er zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Ein Greis, wenn man es genau nahm. Doch die Vergangenheit fühlte sich fremd an. Irreal, als sei sie nur die lebhaft geschilderte Geschichte eines Vorfahren.
Im Glas des Bilderrahmens spiegelten sich schemenhaft die Züge eines Mannes von fünfundzwanzig Jahren. Kaum mehr als ein Junge zu heutigen Zeiten. Konnte das er selbst sein? Wenn es ihm nur gelänge, wieder zu diesem Jungen zu werden. Nur für eine kleine Weile unbeschwerter Gegenwart.
Er berührte seine Schläfe, seine Wange, während sein Blick zu Helena schweifte. Das so vertraute Gefühl, nicht Tage zu durchleben, sondern stattdessen durch ein nie enden wollendes Fotoalbum zu blättern, traf ihn mit unerwarteter Wucht in die Brust, als erihr Gesicht betrachtete, das dem ihrer Großmutter so ähnlich war. Der nächste Atemzug kam zu laut über seine Lippen. Zentnerschwer und massiv bedrohte die Vergangenheit den winzigen, gläsernen und noch unausgefüllten Moment der Gegenwart. Samuel ballte die Fäuste, bereit, diesen Moment zu verteidigen. Mit
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