Benkau Jennifer
meine.“
„Selbstverständlich darf man das“, antwortete Samuel, sich das Schmunzeln verkneifend. „Wir möchten auch keineswegs lange stören.
„Ich werde fragen.“ Die Tür wurde energisch geschlossen.
Helena knuffte Samuel in die Seite. „Selbstverständlich darf man das“, äffte sie ihn leise nach.
Es vergingen sicherlich fünf Minuten, bis die Frau, mit der Nachricht, die Lady würde sie empfangen, wieder öffnete. Sie führte Samuel und Helena über einen lang gezogenen Flur in eine luxuriös eingerichtete Wohnstube. Kaum traten sie ein, winkte aus dem hinteren Bereich des Zimmers schon eine zierliche, in eine Wolldecke verhüllte Gestalt.
„Der Mann nur“, krächzte sie mit unverkennbar britischem Akzent. „Nicht die Frau!“
Helena warf Samuel einen fragenden Blick zu, folgte der Haushälterin dann aber wieder in den Flur, während Samuel vortrat. Das Zimmer glich einem Zeitsprung ins frühe 20. Jahrhundert. Samtbespannte Möbel, mit Brokatstoff gesäumt, dazu passende schwere, scharlachrote Vorhänge, die vom Tageslicht nur eine pythische Ahnung einließen. Gobelins hingen an den Wänden. In einer Ecke strahlte ein galvanisierter, gusseiserner Kohleofen stickige Hitze aus. Doch als Samuels Blick auf das Gemälde fiel, schien alles andere die Farben zu verlieren. Das Bild war gewaltig, es raubte ihm in seiner schier dreidimensionalen Präsenz den Atem. In seinem Rahmen, dessen Vergoldung zum Teil abgeblättert war und kunstvoll in Form geschnitztes Holz durchscheinen ließ, nahm es fast eine ganze Wand für sich ein. Mannshoch waren der blutrote Drache und der silbrig weiße Phoenix in Öl festgehalten, so detailgetreu, dass ihr Kampf vor Samuels Augen zum Leben zu erwachen schien. Er konnte das Gemälde ein paar Sekunden lang nur anstarren – sinnierend, ob diese Figuren den Rahmen verließen, wenn niemand hinsah –, ehe er sich seiner Unhöflichkeit bewusst wurde, und sich Lady Claire zuwandte. Sie saß aufrecht in eine Decke gehüllt auf dem Sofa. Ein schlohweißer, geflochtener Zopf hing ihr über die Schulter und reichte bis in ihren Schoß. Als Samuel sich ihr gegenüber auf einen der Sessel setzte, kniff sie die Augen zusammen und er fragte sich, ob er je einem Menschen begegnet war, der annähernd so alt war. Ihre Haut wirkte wie hauchdünnes, zerknittertes Pergamentpapier, das sich um ein kleines Skelett schmiegte. Vor ihr auf dem Tisch stand eine Flasche Likör und ein Kristallglas, in welches die Lady mit leicht zitternder Hand einschenkte.
„Darf ich anbieten dir einen Drink?“
„Nein, vielen Dank.“ Erstaunlich, dass man so alt werden konnte, wenn man schon am Vormittag Alkohol trank.
„Well“, sagte sie, nachdem sie ihr Glas mit einem Zug geleert hatte. „Du kommst so spät, my dear. Beinahe hätten sie mich gestellt unter Denkmalschutz, gleich mit meine Villa zusammen. Aber noch funktionieren diese alten Augen. Ich erkenne dich. Beneidenswert ist dein Aussehen, verglichen mit die meine. Aber ich möchte nicht tauschen mit dir.“
„Ich fürchte, ich verstehe nicht.“
„Ich hatte dich erwartet früher, so viel früher. Als ich dich gehen sah, dachte ich, ich müsse warten für ein paar Jahre. Sie sagte, sie schickt dir die Magie und dann du wirst kommen, um mich zu fragen nach dem Bild, welches ich malen sollte für sie.“
Eine uralte Ahnung kribbelte in Samuels Gedanken. „Sprechen Sie von Moira?“
„Erinnerst du dich nicht?“ Die Alte lächelte breit und offenbarte lange, gelbliche Zähne. „Sie sagte, sie würde dir helfen, Zug um Zug. Ich bin einer dieser Züge, Samuel, doch du hast mich warten lassen so lange Zeit.“
Er sah zum Bild hinüber. „Dann haben Sie es also gemalt.“
„Sure.“
„Und Sie haben eine Botschaft für mich.“
„Jetzt, da du gefunden hast deine Magie, habe ich das wohl.“
Lady Claire schenkte ihr Glas erneut voll und verschüttete einen Schwall Likör über den Tisch. Der Geruch von Himbeeren und Alkohol breitete sich aus. Samuel zog ein Papiertaschentuch aus der Jacke und wischte es auf.
„Ach, es wurde Zeit, dass du kommst, dear. Die Hände wollen nicht mehr so wie ich. Ich warte schon viele Jahre.“
„Lady Claire, ich weiß, dass man eine Dame nicht nach ihrem Alter fragt, aber verraten Sie mir, wie lange Sie warten?“
„Moira schickte mich zurück aus dem Reich der Toten gleich nach dir. Damals, als der Tod erstmals mich holte, war ich fünfundzwanzig Jahre alt. Laut meinem Führerschein ich bin eine
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