Benson, Amber - Jenseits GmbH 1 - Lieber Tod als Teufel
jetzt, da du es gesagt hast, darf ich auch darüber reden.“
„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“
Monsieur D. sah aus, als wollte er mir eine ordentliche Standpauke halten, doch er hielt den Mund – was wahrscheinlich auch besser war angesichts des Umstands, dass er meine Hilfe wollte … und ich seine Hilfe brauchte.
„Möchtest du deinem Freund helfen?“, fragte er.
Ich nickte.
„Dann hol mir den Kelch …“ .
Ich atmete tief durch und ließ dann langsam den Atem entweichen, bevor ich sprach. „Es ist falsch, dir den Kelch zu geben, nicht wahr?“
Er antwortete nicht, sondern bedachte mich stattdessen mit einem Blick, der zu fragen schien: „Bist du wirklich so dumm?“, und in dem ich schließlich die Antwort „Ja“ las.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine so wichtige Entscheidung treffen müssen. Wenn ich Monsieur D. den Kelch gab, würden möglicherweise eine Menge schlimmer Dinge geschehen, aber wenn ich es nicht tat … nun, dann würde Daniel zweifellos sterben. Ich konnte weder vor noch zurück – und das war ein Gefühl, das mir überhaupt nicht gefiel.
„Na schön, ich mach’s.“ Ich dachte nicht einmal über die Entscheidung nach, sondern rannte einfach dorthin, wo der Kelch lag, und ergriff ihn. Sengender Schmerz durchfuhr mich – ehrlich, ich hörte, wie mir das Gehirn im Schädel brutzelte, und als der Schmerz begann, an meinem Bewusstsein zu nagen, verfluchte ich mich dafür, eine so qualvolle Dummheit begangen zu haben.
„Ohgottohmistohdreck“, jaulte ich, ohne mitzukriegen, welche Worte da aus meinem Mund strömten. Ich konnte nicht mehr denken, nicht mehr sehen, nicht mehr handeln. Es gab nur noch den Schmerz.
Glücklicherweise stellte sich heraus, dass ich überhaupt nicht Herrin meines Tuns sein musste. Der Kelch hatte ohnehin eigene Pläne. Er drehte mich herum, sandte mich im Marschtritt an den Rand des kristallklaren Wasserbeckens und schickte mich auf die Knie. Ein lautes Zischen ertönte, als ich den Kelch ins Wasser hinabstieß, dann war ich wieder frei.
Ich blinzelte die Tränen des Schmerzes fort und schaute mich um. Monsieur D. kauerte neben mir, und auch ihm strömten die Tränen übers Gesicht. Er sah mich mit so tiefer Dankbarkeit an, dass ich fast den Blick abwenden musste. Eigentlich hatte ich nicht das Gefühl, dass ich so viel Dankbarkeit verdiente, denn schließlich hatte ich ihm nicht aus Herzensgüte geholfen. Ich hatte meine eigenen, selbstsüchtigen Gründe gehabt, ihm zu Diensten zu sein.
„Danke.“ Mit zitternden Händen griff er nach dem randvollen Kelch und nahm ihn mir aus den versengten Fingern. Dann setzte er ihn an die Lippen und trank wie ein Verdurstender. Sofort entspannten sich seine Schultern, und er schloss zufrieden die Augen.
„Nichts zu danken …“, setzte ich an, doch dann verstummte ich und starrte Monsieur D. an. Etwas Seltsames geschah mit seinem Gesicht. Seine Haut, die noch Augenblicke zuvor beinahe durchscheinend dünn gewirkt hatte, nahm einen gesünderen Glanz an, und seine eben noch hervorstechenden Wangenknochen waren nun mit einer Fettschicht ausgepolstert.
„Monsieur D.“, stotterte ich. „Dein Gesicht …“
Er trank den letzten Tropfen Wasser aus dem Kelch, seufzte zufrieden und ließ das Gefäß in seinen Schoß fallen. Ich war erschüttert. Der Mann neben mir war ganz und gar verwandelt. Das Lumpengerippe war verschwunden, stattdessen saß dort ein gut aussehender, aristokratisch wirkender Mann, der wahrscheinlich nicht älter war als ich.
„Was bist du?“, flüsterte ich. Hatte ich etwa hier und jetzt, mitten in der Hölle, ein Aschenputtel-Schneewittchen-Erlebnis mit Monsieur D.? War dieser hässliche alte Penner in Wirklichkeit ein wunderschöner Märchenprinz? Nahmen die Wunder denn kein Ende?
Lieber Himmel, ich hoffte es inständig. Ich hatte nämlich ernsthafte Schwierigkeiten damit, diesen Kerl gedanklich mit dem verrückten Geschöpf in Verbindung zu bringen, das er keine zwei Sekunden zuvor noch gewesen war. So, wie ich das sah, handelte es sich hier eindeutig um Magie, wie es sie seltsamer nicht gab.
„Du kannst mich jetzt Marcel nennen“, sagte er und lächelte mich an, wobei er einen hübschen Satz perlweißer Zähne entblößte.
Sehr viel besser, dachte ich. Schluss mit Mr. Zahnfleischfraß.
„In Ordnung, Marcel“, antwortete ich und starrte ihn weiter an, da ich mir nicht ganz sicher war, was ich als Nächstes tun sollte.
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