Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
Spezies fragte sie sich oft, was verzweifelte Eltern nicht alles opfern würden, damit ihre Kinder überlebten. Höchstwahrscheinlich würden sie, ohne nachzudenken, alles geben, was sie hatten; das lag in der Natur von Mutterschaft in der Wildnis. Doch in jenem furchtbaren Seuchenwinter gab es nicht viel …
Aber das Leben findet immer einen Weg, erinnerte sie sich in den langen Nächten, wenn der Wind Schnee und Eis wütend durch die strenge Landschaft von Neuengland jagte. Einige von diesen Babys würden überleben, wie es auch während MR SAM’S erster Schreckensherrschaft gewesen war – soviel konnte man mit einiger Sicherheit behaupten. Doch wozu diese Babys heranwachsen würden, das ließ sich nicht vorhersagen.
Hin und wieder stolperte irgendeine arme Seele unwissentlich gegen den elektronischen Zaun des Camps und löste Alarm aus, nur, um später in einiger Entfernung mit einem wehen Arm und benommenem Kopf aufzuwachen. Gelegentlich gab es einen Hufabdruck im Schnee oder Schlittenspuren, die die unerwartete Ortsveränderung erforschten. Janie wagte sich nach draußen, wenn die Kälte nicht zu brutal und der Wind nicht zu beißend war, ging auf dem Gelände des Camps spazieren und dachte ihre privaten Gedanken. Am häufigsten ertappte sie sich beim Nachsinnen über den anonymen Mann, dessen Leben sie genommen hatte in dem verzweifelten Bemühen, ihr eigenes und Carolines zu retten. Als Ärztin hatte sie für viele Menschenleben Rechenschaft abzulegen, und es war zu Momenten gekommen, bei denen ihr Handeln oder Nichthandeln die Waagschalen von Leben und Tod in diese oder jene Richtung bewegt hatten. Doch in all diesen Fällen hatte das Schicksal ihr den Patienten schon geschädigt gebracht; sie konnte ihre Gaben dann nur noch benutzen, um für den glimpflichsten Ausgang zu sorgen.
Aber bei Anonymus, wie sie ihn inzwischen bei sich nannte, lag die Sache anders. Ihn zu töten war eine Entscheidung gewesen, und Janie mußte zu der Überzeugung gelangen, weise entschieden zu haben – sonst konnte sie unmöglich weitermachen. Ihm einen Namen zu geben, hatte es nicht leichter gemacht, das Gewicht ihrer Schuld abzuschütteln. Er tobte so lebhaft durch ihre Träume, wie sie sich Carlos Alderón im Schlaf von Alejandro Canches vorstellte, und als der Frühling erschien, suchte sie immer häufiger Trost auf den Seiten seines alten Journals.
Nachrichten von draußen kamen spärlich und unregelmäßig. Alle paar Tage leuchtete Virtual Memorial auf, und der Bildschirm verkündete Neuigkeiten. Dann versammelten sich alle in sehnsüchtiger Erwartung irgendeiner Verbesserung der Zustände um ihn. Die Mitteilungen waren nie ganz gut oder ganz schlecht. Minnesota berichtete am häufigsten; denn die zupackenden skandinavisc hen Landsleute, die dort lebten, bauten schon wieder ihre Gemeinden auf.
Janie wußte, warum die Todesrate dort niedriger lag als überall sonst. Und das wußten auch die anderen in Camp Meir. Vor allem Caroline.
Sie hatten nämlich schon einmal diese tödliche Seuche besiegt.
KAPITEL 37
Die weiße Brücke sah genauso aus wie vor zehn Jahren. Er hatte mit Eduardo Hernandez oben gestanden und auf die schwärzlichen Leichen hinuntergesehen, die in den faulen Wassern der Rhone schwammen. Ihre Gesichter sahen gequält und ihre Hälse geschwollen aus, und durch ihre Totenmasken hindurch schrien sie danach, zur Ruhe gebettet zu werden. Aber es gab nicht genug Lebende, um sie einzusammeln, nicht genug Gräber, um sie aufzunehmen, nicht genug Priester, um Gebete über ihnen zu murmeln. Die Gefühle jener Tage trafen Alejandro von neuem wie ein Keulenschlag, schwer und lähmend, und er hielt sein Pferd an, wie er und Hernandez es vor so langer Zeit getan hatten.
Damals quälte ihn grauenvolle Angst – genau wie heute; doch es war eine andere Art von Angst, die ihn an diesem grauen Tag in ihren Fängen hielt. Bei der ersten Überquerung der Brücke hatte er sich vor dem Leben fern seiner schützenden Familie gefürchtet, vor der Reise – hatte nicht gewußt, was vor ihm lag. Es stand in den Sternen, ob er Manns genug wäre, dem Weg ins Auge zu sehen, der ihm bevorstand; aber er hatte begriffen, daß er es konnte. In der Zeit zwischen dem ersten Überqueren der Brücke und dem heutigen hatte er nun sein Inneres viel intimer kennengelernt, als er je für möglich gehalten hätte und eigentlich wollte. Er sehnte sich nach der Naivität dieses ersten Übergangs, nach seiner jugendlichen Unwissenheit zurück
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