Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
– denn jetzt war klar, was auf ihn zukam: jener Teil seines Lebens, in dem er die Tochter vermissen und sich nach ihr sehnen würde, deren Kind er jetzt vor seine Brust gebunden trug.
Ach, Hernandez, dachte er in nachdenklichem Schweigen, mein lieber Gefährte, wie ich Euch vermisse! Wie unschuldig waren sie beide gewesen, als sie diese Brücke das erste Mal überquerten. Ich wußte nichts vom Leben, überhaupt nichts, und Ihr mit all Eurer weltlichen Erfahrung konntet nicht ahnen, was mich erwartete.
Wenn sie nur auf der anderen Seite geblieben wären – würde Hernandez dann heute noch leben? Hätte ein Abenteurer wie dieser große Spanier das Jahrzehnt überlebt, das auf seinen frühen Tod folgte?
Die halbe Bevölkerung war gestorben, erinnerte er sich.
Aber schaut aus Eurem christlichen Himmel nieder, mein Freund, und seht, wie gut Ihr mich unterwiesen habt! Ich habe überlebt, sogar gegen den Willen Gottes!
Ich habe einen weiteren Freund gefunden, wißt Ihr, obwohl ich seine Zuneigung zu mir erst erkannte, als es beinahe zu spät war, sie noch zu genießen. Und er hat mir auf meiner Lebensreise geholfen, wie Ihr – obwohl er dazu nicht seine Seele auszuhauchen brauchte.
Das Kind an seiner Brust bewegte sich.
Und, ja, das hätte ich beinahe vergessen, ich habe eine Tochter. Ich habe sie einem König gestohlen. Sie hat mich gelehrt, daß es auf dieser Welt vieles gibt, das man lieben kann, wenn man nur hinschaut … und sie hat mir diesen schönen Enkel beschert, wenngleich ich mich noch gar nicht wie ein Großvater fühle!
Aber leider hat sie ihn nie an ihre Brust gelegt …
Er schlug die oberen Tücher zurück und schaute auf das zerknitterte rosa Gesichtchen des Säuglings, der kläglich greinte. »Du weißt nichts von dem, was vor dir liegt, kleiner Mann«, flüsterte er, »aber ich schwöre beim Leben deiner Mutter, daß du nichts entbehren mußt.« Er rieb den Rücken des Kindes, und nach ein paar Minuten beruhigte das Baby sich wieder. Er drückte seinem Pferd die Knie in die Seiten, und das Tier ging mit langsamen, sicheren Schritten weiter.
»Wir werden dir eine geeignete Amme suchen, sobald wir auf der anderen Seite sind.« Er schaute sich nach der Ziege um, die an einem Strick hinter dem Pferd hertrottete und deren volles Euter im Gehen schwang. Das Tier sah unsagbar unglücklich aus und blökte auf höchst verstörende Weise. Er hatte die fürstliche Summe von zwei Goldstücken für dieses lästige Geschöpf bezahlt; aber es hatte warme Milch geliefert, um das Kind zu ernähren, und dafür hätte Alejandro auch die zehnfache Summe aufgewendet. »Wenn wir dann die Richtige gefunden haben, werden wir dieses störrische Kindermädchen zur Belohnung auf die Weide schicken und ihm für seine guten Dienste ewig dankbar sein.«
Der Papstpalast dominierte noch immer die Aussicht mit seinen weißen Pfeilern, die himmelwärts strebten – jenem ätherischen Ort entgegen, an den alle Christen jenseits der elenden Grenzen des Lebens glauben. Er blickte auf und stellte sich den neuen Papst vor – dessen Namen er noch nicht kannte und auch nicht zu kennen begehrte –, eingeschlossen in seinen privaten Turm, umschwirrt von Beratern und Weisen; dennoch konnte Alejandro sich nicht denken, daß irgendeiner von ihnen so viel Schläue an den Tag legte wie de Chauliac zum Wohl seines Herrn Clemens. Der gegenwärtige Stellvertreter des christlichen Gottes würde festen Halt haben in der glorreichen Macht der Kirche mit ihrer unendlichen Reichweite und ihrem grenzenlosen Mandat. Er konnte das Leben der Juden von Avignon und vieler anderer zerbrechen, indem er ein paar Worte auf eine Pergamentrolle kritzelte und sein Siegel in ein wenig erwärmtes rotes Wachs auf seiner Oberfläche drückte. Trotz des Leidens, das er mit einem so simplen Akt verursachte, brauchte er nie einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Würde dieser Papst sich auch als so unergründlich entgegenkommend erweisen, wie Clemens es gewesen war, gegen alle Ratschläge – als de Chauliac ihm diente? Bald bestünde darüber Klarheit.
Die Straßen Avignons waren viel sauberer, als er sie in Erinnerung hatte. »Ach, kleiner Guillaume«, sagte er zu dem Baby, »du kannst dir den Schmutz nicht vorstellen, den es hier früher gab! Im Vergleich dazu glänzt jetzt alles.« Und das stimmte; er sah keine Ratten und sehr wenig Unrat.
Er befand sich auf einem großen, offenen Platz. Von seinem ersten Besuch in Avignon erinnerte er sich nicht
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