Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
einem kleinen Gebäude wieder, das nur ein Tempel sein konnte. Er hielt Pferd und Ziege an und stand einen Moment da, um die saubere Fassade zu betrachten.
»Nun, kleiner Guillaume«, sagte er, »ich glaube, hier möchten wir verweilen.«
Es gab keinen Platz, um die Tiere anzubinden; also sprach er einen herumlungernden Jungen an und bot ihm einen sou, damit er für ein Weilchen auf sie aufpaßte. Der Junge strahlte, und als er den Zügel erhalten hatte, stand er ernst da, den Stolz über seine wichtige Mission ins Gesicht geschrieben.
Das Baby fest an seine Brust gedrückt, beugte Alejandro den Kopf und trat durch die niedrige Tür. Der Fußboden war mit Sand bestreut, um die Geräusche für jene zu dämpfen, die in tiefe Meditation über die Wunder Gottes versunken waren. Und im vorderen Teil des Raumes befanden sich zwei alte Männer, die genau das taten. Ihre Köpfe nickten rhythmisch, während ihre Lippen einen nicht versiegenden Strom von Gebeten murmelten. Das war die klassische Haltung des frommen Juden im Tempel, etwas, was er in seiner Jugend viele tausend Male gesehen hatte. Doch die Augen des Mannes, der Europa durchquert hatte, bemerkten etwas, was dem Jugendlichen nie aufgefallen war.
Wie eigenartig diese Praxis aussieht!
Einer, so schloß Alejandro aus dessen Kleidung, war ein Rabbiner, wahrscheinlich der Führer dieser Gemeinde und wohl auch der größeren Gemeinschaft. Der andere schien außer seiner offenkundigen Frömmigkeit keine besondere Bedeutung zu haben. Die beiden Männer waren so vertieft, daß sie ihn nicht bemerkten.
Der Rabbiner kennt sicher eine Amme, dachte er. Und als er den Mund öffnete, floß das Hebräische mit unheimlicher Leichtigkeit von seiner Zunge.
»Schalom, Rebbe«, sagte er leise.
Der Rabbi drehte sich langsam um und sah ihn an. »Schalom, mein Sohn.«
»Dürfte ich Euch eine Frage stellen? Ich bin ein Reisender, der Rat sucht.«
»Wenn ich einen weiß …«
Doch seine Worte wurden vom plötzlichen Stöhnen des anderen älteren Mannes unterbrochen, der sich umgedreht hatte und nun wachsamen Blicks dem großgewachsenen Eindringling gegenüber stand. Auf unsicheren Füßen tappte er durch den Sand und ein paar Schritte vorwärts. Er hielt sich mit einer Hand an dem hölzernen Geländer fest und sah in dem dämmrigen Licht blinzelnd nach dem Neuankömmling. Dann flüsterte er mit brüchiger, zitternder Stimme: »Alejandro?«
Alejandro dachte einen Moment lang, Gott habe ihm befohlen, auf seine Zunge zu verzichten; er konnte sie nicht bewegen. Sein Mund war staubtrocken. Doch schließlich brachte er trotz seines Schocks das eine Wort heraus, das gesagt werden mußte.
»Vater?«
Der alte Mann begann zu wanken, also eilte er vorwärts, um ihn zu stützen. Und dann, das Kind noch immer an der Brust, nahm er den Greis in seine zitternden Arme, und heiße Freudentränen strömten unaufhaltsam über seine Wangen.
Das Baby Guillaume Karle schrie aus Leibeskräften, als ihm geschah wie den Söhnen Israels seit Hunderten von Jahren; es wurde Gott ein Stückchen von seiner Männlichkeit geopfert, wofür Gott ihm versprach, sich stets an ihn zu erinnern. Und obwohl das Kind nicht Alejandros leiblicher Sohn war, hatte der Rabbi entschieden, daß nichts damit gewonnen wäre, diesen Umstand zu seinen Ungunsten auszulegen. Er ist noch ein Säugling, sagte der weise Mann. Wir werden ihn lehren, ein guter Jude zu sein.
Und als die kurze Zeremonie vorüber war, brachte Alejandro Guillaume zu einer Frau in der Nähe, einer jungen Witwe mit einem eigenen, soeben entwöhnten Kind, die noch reichlich Milch für Kates Kleinen übrig hatte.
»Ach, Leah«, sagte Alejandro lächelnd, als er ihr das Kind übergab, »Ihr wirkt Wunder! Seht nur, wie er in Eurer Obhut aufblüht!«
Sie wiegte den Säugling in den Armen und spürte sein warmes Gewicht an ihrem Körper. Alejandro bemerkte die Hingabe, mit der die Frau Guillaume hielt, fast als habe sie ihn selbst geboren.
»Er scheint ganz aus Hunger zu bestehen«, bemerkte Leah.
»Aber ich glaube, er ist zufrieden. Jetzt schläft er tief.«
Und Alejandro ertappte sich bei dem Gedanken, daß ein Mann selbst im zarten Kindesalter Arme erkennt, die ihn willkommen heißen …
Ein letztes Lächeln tauschte er mit der erstaunlichen jungen Witwe, als der Rabbi sich ihnen näherte. Scheuen Blicks zog sie sich zurück, Guillaume an die Brust gedrückt.
»Für Euch ist ein Brief eingetroffen «, sagte der alte Mann. Er zog eine Rolle aus dem
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