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Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse

Titel: Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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überkam sie plötzlich mit großer Dringlichkeit. Sie schaute nach der Sonne am Himmel und wies dann in eine Richtung.
    »Westen«, sagte sie und wendete ihr Pferd.
    »Wohin wollt Ihr?« rief Karle, während er ihr folgte.
    »Zu dem westlichen Feld«, gab sie zurück.
    Das Grab fanden sie mühelos. Ein paar der Steine waren zur Seite gerollt; aber welches Tier hier auch am Werk gewesen sein mochte – es war nicht bis zu seinem Ziel vorgedrungen. Dennoch erleichterte es Kate, daß ein großer Teil Arbeit bereits von einem Geschöpf mit Klauen erledigt worden war.
    Während sie nun tatkräftig die restlichen Steine wegräumte, sah Karle mit neugieriger Ehrfurcht zu. Als er sich nähern wollte, winkte sie ihn weg. »Bleibt zurück – dann wird Euch niemand vorwerfen können, Ihr hättet daran teilgenommen.«
    »Aber darauf steht die Todesstrafe – Ihr müßt aufhören!« Steine zur Seite werfend antwortete sie: »Das kann ich nicht. Es ist wichtig.«
    »Aber warum? Warum sollte ein junges Mädchen …«
    »Das, was ich hier tue, tue ich als Heilerin, nicht als junges Mädchen. Also steht Wache …«
    Der Steinhaufen neben ihr war beträchtlich angewachsen, und sie begann sich schon zu fragen, ob die Frau recht gehabt hatte, als sie von einem flachen Grab sprach; aber da stieß sie auf etwas, was sie für das verweste Fleisch eines Schenkels hielt. Sie räumte noch ein paar Steine weg, bis sie den Arm fand, der neben dem Schenkel des toten Kindes lag und in einer verfaulten Hand endete. Während Karle entsetzt zusah, griff sie in ihren Strumpf, nahm das Messer heraus und trennte die Hand vom Arm ab. Sie riß einen Streifen von ihrem Tuch und wickelte das schwärzliche Ding ein. Nachdem sie rasch die Steine wieder in die Grube geworfen hatte, stand sie schwankend auf und würgte vor Ekel.
    Als ihre Blicke sich trafen, erhaschte Karle in ihren Augen ganz kurz den Ausdruck eines gejagten Tiers. »Ihr seid wahnsinnig«, zischte er.
    Aber da war sie wieder Alejandros Tochter und sich der Natur ihrer Tat voll bewußt. »Sagt es nicht zu laut, Karle«, flüsterte sie, während sie sich faßte. »Gott wird Euch sonst hören. Ihr müßt mir glauben, daß dieser Fund unser Glück ist – denn wir werden ihn vielleicht einmal brauchen.« Sie hielt das Bündel auf Armeslänge von sich. »Aber ein noch größeres Glück ist, daß es nicht mehr stinkt.«

    Alejandro schaute aus dem kleinen Fenster seiner Dachstube in der Rue des Rosiers zu, wie eine alte Frau in einfachem grauem Kleid und weißer Schürze den Tag mit einem Besen in der einen samt Eimer in der anderen Hand begrüßte. Zuerst fegte sie die Ausscheidungen der Nacht von den Steinen, entfernte sie entschlossen von ihren Türstufen und verbannte die widerwärtigen braunen Häufchen murmelnd in den Rinnstein. Dann leerte sie ihre Eimer über denselben Steinen aus und schrubbte sie voller Hingabe, damit nichts Schädliches überlebte. Alejandro hatte sie am Vortag und auch am Tag davor dasselbe tun sehen.
    Wären die Einwohner Londons nur auch so auf Sauberkeit bedacht, dachte er bedauernd, dann hätten vielleicht mehr überlebt … Doch bei der ersten Welle des Schwarzen Todes waren ebenfalls viele Pariser umgekommen, trotz der relativen Sauberkeit der Stadt; also konnte er den Schmutz Londons nicht gänzlich für die Verheerungen verantwortlich machen, die dort stattgefunden hatten. Viele behaupteten, die Engländer seien eine andere Art Menschen als die Franzosen, wilder, einige sagten sogar etwas von barbarisch. Und tatsächlich konnte er sich nicht erinnern, je eine Engländerin gesehen zu haben, die dem allgegenwärtigen Dreck auf dem Kopfsteinpflaster mit solcher Vehemenz zu Leibe gerückt wäre wie diese ältliche Pariserin. Aber er stimmte der in Frankreich weitverbreiteten Auffassung nicht zu, die Engländer seien ein träges Volk, denn anderen Mißständen begegneten sie höchst energisch.
    Den Franzosen zum Beispiel. So oft wie möglich. In seiner Dachstube sah er bekümmert vor sich hin.
    Jetzt war die Alte damit beschäftigt, die Läden zu öffnen, die ihre runden und eckigen Käse in der Nacht vor allerhand Gesindel schützten. Durch die kriegsbedingte Knappheit waren Nahrungsmittel teuer, und eine großzügige Portion Käse stellte einen Luxus dar, den sich nur die sehr Reichen oder die sehr Gerissenen gönnen konnten. Der durchdringende Käseduft, der nun frei wurde, breitete sich in der Straße aus und erreichte auch Alejandros Dachfenster; das war für

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