Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
ihn Anreiz genug, um die Spinnweben und das feuchte Stroh seines vorübergehenden Verstecks zu verlassen und sich auf die Suche nach etwas Eßbarem zu begeben.
Über dem winzigen Laden hing ein großes, keilförmiges Holzbrett, das gelb angemalt war und die geschnitzte Inschrift fromage trug. In den Vertiefungen klebten Staub und Schmutz, denn die alte Frau konnte das Schild nicht erreichen, um es zu säubern. Er dachte einen Moment lang daran, sich für diese Aufgabe anzubieten. Damit hätte er ihr einen großen Gefallen getan, und trotz seines schweren Schicksals war Alejandro noch immer ein freundlicher Mensch.
Doch er hielt sich zurück, das Angebot tatsächlich zu machen – denn diese Freundlichkeit hätte bewirkt, daß er sich dem Gedächtnis der alten Frau einprägte. Seit seiner Ankunft in Paris hatte Alejandro es sorgfältig vermieden, zweimal dasselbe zu tun, um nicht die Aufmerksamkeit von jemandem zu erregen, der müßig das Kommen und Gehen der Bewohner dieses speziellen arrondissements beobachtete. Abgesehen von den Eintragungen in Abrahams Buch war das alles, was er selbst zu tun hatte; und er war erstaunt, was er alles bemerkte, wenn er Zeit zum Beobachten hatte: die mürrische junge Frau, die immer wieder Herren einlud, mit ihr die dunkle Treppe hinaufzusteigen, den ganzen Tag lang und bis tief in die Nacht; die rauflustigen Knaben, die mit Stöcken spielten und einander beim ansonsten harmlosen Wettstreit oft blutige Kratzer zufügten; die scheue Witwe in schwarzem Kleid, die ein schniefendes Kind an der Hand führte und einen Korb trug, der immer schrecklich leer schien. All diese Menschen waren ihm jetzt vertraut, obwohl er sich erst ein paar Tage in dieser Umgebung aufhielt. Wie lange würde es dauern, bis sie ihn bemerkten und sich zu wundern begannen?
Am Vortag hatte er die süße Stimme eines kleinen Mädchen gehört – sie hatte »Père!« gerufen, und der Klang des Wortes drang in sein Innerstes. Hastig hatte er sich umgedreht und gesehen, wie ein glücklicher père von irgendwo mit Dingen nach Hause kam, die seine Kleine brauchte und unter denen ein liebendes Herz und überströmende Zuneigung nicht das einzige waren. Er hatte das lachende Kind in die Arme genommen und das rosige Gesichtchen mit väterlichen Küssen bedeckt, während Alejandro zusah und schmerzhaften Neid empfand.
Er weiß nicht, wie schnell das vergeht, wie bald sie eine Frau sein und ihn nicht mehr brauchen wird.
Abwechselnd suchte er unterschiedliche Geschäfte auf, verweilte nie lange an einem Ort und blieb nie länger als einige Minuten an derselben Stelle. Aber immer hielt er die Augen offen, wo er auch war: Denn in dieser Straße, in dieser Ansammlung kleiner Läden und Märkte, hier inmitten der letzten paar Juden von Paris würde Kate nach ihm Ausschau halten.
Noch war er nicht besorgt, daß ihr Eintreffen sich verzögerte; denn er selbst hatte den Vorteil gehabt, reiten zu können, während sie zu Fuß ging. Oder könnten sie es irgendwie zustande gebracht haben, sich Pferde zu beschaffen? Waren sie noch zu zweit? Zu spät und mit einem schrecklichen Gefühl von Ohnmacht fragte sich der Arzt, ob der Franzose wirklich so vertrauenswürdig war, wie er ihn eingeschätzt hatte – oder ob er das Gold, das ihrem Unterhalt dienen sollte, nehmen und sie im Stich lassen würde? Kate hatte etwas eigenes Gold in einer anderen geheimen Tasche ihres Rocks, die zugenäht war, damit die Münzen nicht versehentlich herausfielen. Er hatte sie gelehrt, immer etwas bei sich zu haben, was sie leicht gegen das Überlebensnotwendige eintauschen konnte. Eine Goldmünze würde ihr die Reise durch halb Europa ermöglichen, wenn sie sie richtig anlegte, und er hatte ihr beigebracht, bescheiden zu sein. Sie würde bestimmt eine gute Ehefrau, dachte er voller Stolz, obwohl er in ihrer Jugend so viel mit ihr hatte herumziehen müssen. Wenn die Zeit kam, sie zu verheiraten, übernähme sie die Angelegenheiten ihres Gatten und ihres Haushalts mit Umsicht und erzöge ihre Kinder mit Liebe!
Gebe Gott, daß die Welt einmal wieder zur Vernunft kommt und ihr so einfache Freuden zuteil werden.
Irgendwann fand er sich vor den Käselaiben wieder und hörte die alte Frau in dem grauen Kleid energischer, als er ihr zugetraut hätte, nach seinem Begehr zu fragen. Er zeigte auf seine genügsame Wahl unter all den Versuchungen und bezahlte den Preis in kleinen Münzen. Nachdem er der Frau mit einem Lächeln gedankt hatte, überquerte er rasch die
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