Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
Ihr mir nicht?«
Was sollte sie sagen, um ihre Unwissenheit zu entschuldigen? Es war ja nicht ihre Schuld. Sie suchte nach einer plausiblen Antwort.
»Ich habe mich … eh … dem Lernen gewidmet, um Hebamme zu werden.«
»Die Kenntnisse einer Hebamme werden Euch sehr von Nutzen sein, wenn Ihr tot am Straßenrand liegt, von irgendeinem angeblich ›edlen‹ Ritter mißbraucht. Ihr müßt versuchen, am Leben zu bleiben, um den rechten Gebrauch von Euren Fähigkeiten zu machen«, mahnte er. »Wenn Eure Behauptungen stimmen, dann wäret Ihr für unsre Sache eine große Hilfe.« Er forderte sie mit Blicken heraus.
»Jetzt kommt mit mir, und Ihr werdet sehen.«
Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte voraus. Und obwohl es ihr nicht vernünftig erschien, folgte sie ihm.
Doch diesmal wartete sie nicht draußen. An der Tür eines kleinen, altersschwachen Steinhauses wurden sie von einer Frau mit düsterer Miene, dürren Armen und schwangerem Leib begrüßt. An den hohlen Wangen der Bäuerin sah Kate, daß das Kind in ihr sich alles nahm, was es bekommen konnte, und der Mutter selbst wenig übrigließ.
Möge Gott geben, daß ich solche Not nie selber kennenlerne, betete sie im stillen, während sie die Frau anstarrte. Die Frau erwiderte Kates Blick äußerst argwöhnisch, doch da Karle sich für sie verbürgte, durften sie eintreten.
Das Haus war kahl bis auf die allernotwendigsten Möbel. Es herrschte Finsternis, nirgends standen Kerzen, und es war kalt, denn im Herd brannte kein Feuer. In der Luft hingen üble Krankheitsgerüche.
» Bonjour, Madame«, sagte Kate mit ruhiger Höflichkeit und einem Kopfnicken.
Die dünne Frau knickste leicht, was Kate überraschte. Dann lächelte sie Karle hoffnungsvoll an, und dieser erwiderte ihren Gruß mit einer kleinen Verneigung und der Frage: »Was ist mit Eurem Mann?«
Die Frau wies auf ein Strohlager vor dem kalten Herd. Darauf lag der Dahinsiechende, reglos, still, klapperdürr und bleich wie der Mond. »Er steht nur auf, um sich zu entleeren«, gab die Frau Auskunft. »Gott sei Dank kann er das noch, denn ich habe nicht mehr die Kraft, ihn aufzuheben. Aber alles, was er zu sich nimmt, kommt nur als schmutziges Wasser wieder heraus«, flüsterte sie traurig.
»Obwohl er fast nichts ißt.«
»Und was ist mit dem Kleinen?« fragte Karle und blickte sich um.
Die Frau wies mit der Hand in eine düstere Ecke; dort sahen sie einen kleinen Jungen, der sie aus der Dunkelheit mit den hohlen, leeren Augen von jemandem anstarrte, der an nichts als Essen denkt.
»Den hat es nicht erwischt, heilige Jungfrau Maria, aber er ist nicht größer als vor zwei Sommern. Und spricht nicht mehr«, fügte sie mit gequältem Blick hinzu. »Ich fürchte, es fehlt ihm im Kopf.«
Kate schaute sich um, sah aber keine weiteren Kinder. »Gibt es noch andere?«
Mit einem trostlosen Schluchzen legte die Frau eine Hand auf ihre Brust und sagte: »Dahin! Die Pest hat es weggerafft!«
Kate und Karle starrten einander an. »Gibt es hier Fälle von Pest?« flüsterte Karle.
Unter Tränen brachte die Frau heraus: »Sie kommt hin und wieder vorbei und nimmt immer jemanden mit, bevor sie sich wieder in ihr Loch verkriecht.«
Mitleidig legte Kate der Frau eine Hand auf die Schulter. Sie meinte das tröstend, aber die Arme erschauerte, und Kate fühlte, wie unter ihrem zerlumpten Kleid die Knochen herausstanden.
»Wann ist Euer Kind gestorben?«
»Beim letzten Mondwechsel.«
»Und Ihr habt es begraben?«
»So gut ich konnte … ich habe am Rand des westlichen Feldes ein flaches Loch ausgehoben, das Kind hineingelegt und dann mit Steinen bedeckt. Ich bete darum, daß keine Tiere gekommen sind.«
Das solltet Ihr auch, dachte Kate. » Madame, gibt es hier häufig Ratten?«
Die Frau starrte sie aus geschwollenen Augen an. »Weshalb stellt Ihr eine solche Frage?«
»… weil es Ärzte gibt, die denken, die Ratten könnten Schuld an der Pest sein.«
»Dann werden wir alle sterben – denn wir waren gezwungen, sie zu essen.«
Kates Magen hob sich. »Und das verstorbene Kind? Hat es eine Ratte gegessen?«
»Vielleicht; ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Mein Großer war alt genug, um selbst welche zu jagen. Und wir hatten den Punkt erreicht, wo wir nicht mehr alles, was wir fingen, miteinander teilten.« Sie bekreuzigte sich rasch. »Möge Gott uns diese Sünde verzeihen. Der Junge könnte eine gefangen und in seinem Hunger gegessen haben, statt sie nach Hause zu bringen. Aber ich weiß es
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