Beobachter
Sie hatte Hunger, sie verspürte Lust zu kochen. Und dann kam irgendeine Erinnerung in ihr hoch, Situationen, Bilder, Momente, und fast gleichzeitig schwappte die Übelkeit über sie hinweg und killte ihren Appetit, und sie ließ alles stehen und liegen und löste sich höchstens noch ein Aspirin in Wasser auf. Vorbeugend. Denn als Nächstes, das wusste sie schon, kamen die Kopfschmerzen und zwangen sie in ein abgedunkeltes Zimmer, wo sie stundenlang mit einem kalten Waschlappen auf der Stirn die Attacke auszuhalten versuchte. Manchmal gelang ihr die rechtzeitige Abwehr.
Auch jetzt ging sie ins Bad, nahm eine Tablette aus dem Spiegelschrank, warf sie in ihren Zahnputzbecher und ließ Wasser darauf laufen. Aus dem Spiegel sah sie ein Wesen mit fahler Haut und grauen Lippen an. Sie drehte ein wenig den Kopf, betrachtete sich halb von der Seite. Sie sah aus wie ein Wrack, aber sie hatte immer noch wunderschöne Haare. Hellblond, lang und leicht gewellt. Es gab Momente, da hielt sie es für möglich, dass es ihr irgendwann gelingen konnte, die Normalität, wie sie sich für andere Menschen darstellte, zu finden. Aber natürlich würde das nicht der Fall sein, solange sie sich in dieser Wohnung verbarrikadiert hielt und kaum je einen Schritt hinaustat. Solange sie jeglichen Kontakt mit anderen Menschen vermied.
An einem Tag wie heute, an dem der Schnee in der Sonne funkelte und die kalte Luft auf der Haut brannte, hätte sie sonstwas dafür gegeben, hinauszukönnen. Einfach durch einen Park zu marschieren, den Schnee unter ihren Füßen knirschen zu hören, Kindern zuzusehen, die einen Schneemann bauten, Hunde zu beobachten, die wild hintereinander herjagten.
Aber es wäre unvernünftig gewesen, so etwas zu tun. Einfach nur des Vergnügens wegen die Wohnung zu verlassen. Zwei- oder dreimal in der Woche ging sie zum Einkaufen. Das machte immerhin einen Sinn. Und dann waren da die Expeditionen, die sie gelegentlich in ihren alten Stadtteil, in das Leben von früher, unternahm: um Finley zu sehen. Wenigstens einen Moment lang.
Anders hätte sie es überhaupt nicht ausgehalten. Sie hätte sich einfach in eine Ecke gesetzt und wäre gestorben.
In kleinen Schlucken trank sie das Wasser mit der aufgelösten Tablette darin. Zwang sich, die bösen, quälenden Gedanken, die sie in eine Panik stürzen konnten, nicht übermächtig werden zu lassen.
Denn das alles war so völlig ohne jede Perspektive. Das war das Schlimme daran. Die Dauer ihres Aufenthaltes hier in Croydon war unabsehbar. Es war ein Aufenthalt ohne Ziel, ohne Hoffnung. Vielleicht musste sie fünf Jahre in dieser Wohnung sitzen.
Es konnten auch zehn oder fünfzehn Jahre werden.
Sie stellte den Becher ab, ging ins Wohnzimmer hinüber. Sie ließ die Jalousien an dem großen Fenster, das nach Süden hinausging, hinunter.
Sie konnte die Sonne einfach nicht länger ertragen.
2
Samson sank das Herz in die Hose, als es an seiner Zimmertür klopfte. Seitdem Bartek am ersten Januar bei ihm aufgekreuzt war, hegte er die Furcht, der Freund werde ihn verpfeifen. Bartek hatte von seiner Angst gesprochen, in eine ganz und gar ungute Geschichte hineingezogen zu werden, und Samson hatte spüren können, wie echt und bedrängend diese Furcht war. Zudem hatte Bartek Zorn und Angst seiner Verlobten erwähnt. Samson konnte sich nur zu gut vorstellen, dass Helen Bartek heftig bearbeitete. Geh zur Polizei! Sag, was du weißt! Noch kommst du mit heiler Haut da heraus! Du bist doch verrückt, wenn du deinen Kopf für diesen Idioten hinhältst. Und wir wissen nicht einmal, ob er wirklich unschuldig ist!
Im Grunde wartete Samson geradezu auf die Polizei. Er wusste, dass es geschickter gewesen wäre, schleunigst das Quartier zu wechseln, ohne Bartek Auskunft darüber zu geben, wo er sich aufhielt, aber ihm fehlte die Energie. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis er aufgeben musste. Sein Geld zerrann. Seine seelische Kraft sowieso. Wahrscheinlich dauerte es nicht mehr lange und er spazierte von selbst in das nächste Polizeirevier und stellte sich.
Trotzdem begann er am ganzen Körper zu zittern, als nun tatsächlich jemand Einlass begehrte. Es war etwas anderes, das Ende immer wieder in Gedanken durchzuspielen, dabei aber das Gefühl zu haben, Zeitpunkt und Ablauf noch halbwegs in der Hand zu haben, als plötzlich mehrere Polizisten vor der eigenen Zimmertür zu vermuten, Handschellen klicken zu hören, sich vorstellen zu müssen, dass man in wenigen Minuten verhaftet und
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