Beobachter
wäre zu fragen, wer es nicht wusste. Ich glaube, in ihrer Schulklasse wusste es jeder. Vielleicht auch einige der Eltern. Nahezu jeder in unserem Bekanntenkreis wusste es. Meine Freundin Tara. Diana, die Mutter von Beckys bester Freundin Darcy. Etliche in der Nachbarschaft wussten es. Samson Segal wusste es offenbar. Seit Jahren fahren Tom und ich Becky am 26. Dezember nach Norwich und kehren zwei Tage später zurück. Mein Vater bringt sie uns dann zum Schulanfang wieder. Das war schon immer so. Verschiedene Putzfrauen, die in der Zeit bei uns arbeiteten, wussten es. Unsere Mitarbeiter im Büro wussten es. Eben jeder.«
»Verstehe«, sagte Fielder.
»Ehe du fragst: Ich wusste es auch«, sagte John. »Wir haben während der letzten Trainingsstunde vor Weihnachten über die Ferienpläne der Kinder gesprochen. Dabei erzählte Becky davon.«
»Entschuldigen Sie, Gillian«, sagte Fielder, »aber ich muss das fragen: Weiß Becky von dem Verhältnis zwischen Ihnen und Mr. Burton?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. Und fügte dann hinzu: »Zumindest hoffe ich, dass sie nichts ahnt.«
»Ich vermute, dass auch viele Menschen wussten, dass Thomas Ward dienstags immer in seinen Tennisclub ging?«
»Das wussten fast ebenso viele. Ja.«
»Wusstest du es?«, wandte sich Fielder abrupt an John.
»Ja. Gillian hat es einmal erwähnt.«
Und du wärest viel zu schlau, mich anzulügen, dachte Fielder, schön kooperativ in allen Punkten, die ich überprüfen kann. Aber das heißt nicht, dass du nicht ansonsten lügst wie gedruckt.
Er reichte Gillian die Hand. »Auf Wiedersehen, Mrs. Ward. Sie haben vor, hierzubleiben? Bei Staatsanwältin Caine? Ich kann Sie hier erreichen?«
»Ja.«
»Es wäre gut, wenn Sie … diese Wohnung nicht zu oft verlassen. Und einfach ein bisschen vorsichtig sind. Jedem gegenüber.« Er hätte ihr gerne deutlicher klargemacht, dass er Burton misstraute und dass sie sich am besten auch von ihrem Liebhaber fernhielt, aber er konnte seinen Verdacht nicht so deutlich aussprechen. Er hatte nichts gegen John in der Hand.
»Ich werde vorsichtig sein«, versprach Gillian. Ihre Finger fühlten sich eiskalt an. »Und ich werde sowieso kaum weggehen. Ich will viel Zeit mit Becky verbringen. Sie braucht mich.«
»Wir werden auch noch einmal mit Becky sprechen müssen. In aller Vorsicht. Aber es ist denkbar, dass ihr noch Details von jenem Abend einfallen. Sie hatte einen schweren Schock und mag manches verdrängt haben. Alles, woran sie sich vielleicht nach und nach erinnert, könnte von Bedeutung sein.«
»Natürlich«, sagte Gillian.
Sie begleitete Inspector Fielder zur Wohnungstür. Nachdem er im Treppenhaus verschwunden war, schloss sie die Tür sehr sorgfältig, legte die Sicherheitskette vor. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, kauerte John am Boden und streichelte den schnurrenden Kater, der seinen Fensterplatz verlassen hatte.
»Er misstraut mir«, sagte er, »Detective Inspector Fielder. Er konnte mich noch nie ausstehen, und es kommt ihm durchaus gelegen, mich nun im Umfeld eines Verbrechens anzutreffen.«
»Er macht auf mich einen sehr kompetenten und sachlichen Eindruck«, sagte Gillian. »Er wird sich nicht von seinen persönlichen Gefühlen leiten lassen.«
John stand auf. »Glaubst du, dass ich es getan haben könnte?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Natürlich nicht.«
Er trat auf sie zu. Seine Stimme klang sanft. »Wie geht es dir? Ich konnte dich das noch gar nicht fragen, weil mein netter Exkollege ja ständig hier herumstand. Du bist sehr blass.«
Sie hatte sich die ganze Zeit über zusammengerissen. Vor allem wegen Becky. Aber auch, um nicht selbst Opfer ihrer Gefühle zu werden. Opfer ihres Entsetzens, ihrer Fassungslosigkeit, ihrer Trauer, ihrer Schuld und ihrer Angst. Aber jetzt, unter seiner sanften Stimme, brach der Schutzwall ein, den sie mühsam um ihr Herz oder ihre Seele oder wo auch immer der pulsierende, glühende Kern ihres Schmerzes saß, errichtet hatte.
Sie begann zu weinen, zum ersten Mal, seitdem das Unfassbare geschehen war. Nicht nur ein paar Tränen, nachts in ihr Kissen geweint, unterdrückt und mit angehaltenem Atem, damit Becky, die neben ihr schlief, nichts merkte. Jetzt strömten die Tränen nur so, sie weinte, dass sie zitterte, und sie ließ es zu, dass John sie in seine Arme zog und an sich drückte. Sie konnte die Wolle seines Pullovers unter ihrer Wange spüren, seinen Herzschlag, seinen Atem, der seine Brust ruhig und gleichmäßig
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