Beobachter
kam Finley aus der Schule und erzählte, dass er im Sportunterricht unglücklich gestürzt sei. Er hatte sich mit seiner rechten Hand abgefangen und zunächst kaum Schmerzen gespürt. Im Laufe des Nachmittags schwoll die Hand jedoch an, die Schmerzen wurden schlimmer. Liza hoffte, die ganze Geschichte werde irgendwie von selbst in Ordnung kommen, aber Finley jammerte immer mehr und schließlich sah sie keine andere Möglichkeit, als einen Arzt aufzusuchen. Sie klebte ein großes Pflaster über ihre Wunde, kämmte ihre Haare so weit es ging nach vorn, um das Malheur notdürftig zu verdecken, und setzte ihre Sonnenbrille auf. Sie wäre lieber in irgendeine Unfallklinik gegangen, in der man sie nicht kannte, aber Finley, inzwischen sehr verstört, verlangte nach seiner vertrauten Kinderärztin und war den Tränen nahe.
So landeten sie bei Dr. Anne Westley, am späten Nachmittag, und wurden trotz des vollen Wartezimmers gleich drangenommen, da es sich um einen Notfall zu handeln schien.
Die Hand war tatsächlich schwer verstaucht. Finley bekam einen Stützverband, dann setzte sich Anne Westley hinter ihren Schreibtisch, um ihm ein Rezept für ein Schmerzmittel auszustellen. Liza saß ihr gegenüber, Finley hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und spielte mit ein paar Plastikfiguren aus der Sesamstraße, die ihn immer sehr faszinierten.
Anne riss das Rezept von ihrem Block und wollte es über den Tisch reichen, hielt aber inne. »Was haben Sie denn da?«, fragte sie.
Instinktiv zupfte Liza sofort ihre Haare nach vorne. Dabei berührte sie eine warme Flüssigkeit an ihrer Schläfe und an ihren Wangen.
Oh nein, dachte sie entsetzt.
»Sie bluten«, sagte Anne, »warten Sie, lassen Sie mich mal sehen!«
Sie kam um ihren Schreibtisch herum, obwohl Liza protestierte. »Es ist nichts … schon gut … kein Problem …«
Das Pflaster war völlig durchweicht. Bevor sie zu Hause weggegangen waren, schien die Wunde gerade einigermaßen zur Ruhe gekommen zu sein. Aus irgendeinem Grund war sie erneut aufgebrochen.
Anne beugte sich über Liza, nahm ihr vorsichtig die Sonnenbrille ab. Das linke Auge hatte auch etwas abbekommen, war aber noch nicht so schillernd verfärbt, wie es das bereits einen Tag später sein würde. Dennoch war das Lid gerötet und geschwollen und die zarte, sich langsam ausbreitende grüne Verfärbung nicht zu übersehen und kaum mit einem ungeschickt aufgetragenen Lidschatten zu verwechseln. Liza hörte, wie Anne scharf die Luft einzog. Dann entfernte sie mit einem geschickten Griff das Pflaster.
»Liebe Güte«, sagte sie, »das sieht aber böse aus! Waren Sie damit beim Arzt?«
»Nein«, sagte Liza. »Es hatte vorhin aufgehört zu bluten, und da dachte ich, das kommt von allein in Ordnung.«
»Die Wunde sieht aus, als habe sie sich entzündet. Ich würde Ihnen gern eine antibiotische Salbe verschreiben. Außerdem muss das besser verbunden werden. Ein Pflaster wird nicht halten. Ich habe ein Spray, das die Blutung stoppt.«
»Ja, gut«, sagte Liza steif. Sie wagte nicht, die Ärztin anzuschauen.
Anne lehnte sich gegen die Schreibtischkante.
»Wie ist das denn geschehen?«, fragte sie. Sie klang gleichmütig – betont gleichmütig.
Liza wusste, dass sie mit dem abgegriffensten aller Klischees reagierte, aber tatsächlich fiel ihr in dieser Sekunde nichts anderes ein.
»Die Treppe in unserem Haus. Das ist mir schon ein paar Mal passiert. Die Stufen sind sehr steil, und ich bin oft so ein Tollpatsch.« Sie lachte künstlich. Ihre Verletzung tat schrecklich weh, sobald sie das Gesicht verzog. »Ich bin ziemlich ungeschickt. Und an dem Geländer unten ist so eine holzgeschnitzte Verzierung, da bin ich mit dem Gesicht draufgeknallt. Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht ein Auge dabei verloren habe. Blöd, so etwas. Ich muss wirklich lernen, vorsichtiger zu sein, aber schon früher in der Schule im Sportunterricht war ich immer …«
Sie verstummte.
Ich rede zu viel, dachte sie.
»Mrs. Stanford«, sagte Anne, die noch immer vor ihr an den Tisch gelehnt stand, »schauen Sie mich bitte an.«
Zögernd hob Liza den Blick. Sie fühlte sich nackt und schutzlos ohne die vertraute riesige, tiefdunkle Brille. Sie musste grauenhaft aussehen.
»Mrs. Stanford, ich will mich in nichts einmischen, was mich nichts angeht. Aber ich möchte Ihnen sagen, dass Sie … man kann in jeder Situation Hilfe finden. Manchmal glaubt man, die eigene Lage sei völlig aussichtslos. Aber das ist sie nicht. Es gibt immer
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