Beobachter
einen Weg.«
Liza sah der grauhaarigen Frau direkt in die Augen. Sie erkannte ihre Betroffenheit und ihr Erschrecken.
Sie weiß es. Sie weiß ganz genau, was passiert ist.
Sie schwieg, blickte dann wieder zur Seite.
»Ich werde mich jetzt um Ihre Verletzung kümmern«, sagte Anne nach einer Weile. Sie klang resigniert. »Ist das in Ordnung für Sie?«
Liza nickte.
Sie ließ sich verarzten, während Finley weiter in seiner Ecke spielte, ohne ein einziges Mal aufzuschauen. Es entging ihr nicht, dass Anne auch dem Kind immer wieder besorgte Blicke zuwarf. Sie war offensichtlich irritiert, dass Finley nicht reagierte, als seiner Mutter das Blut vom Gesicht gewaschen und ein Kopfverband angelegt wurde. Liza fragte sich, ob Anne Westley die Schlüsse daraus zog, die sich unweigerlich aufdrängten: Dass Finley seine Mutter in verletztem Zustand nur zu gut kannte und dass er gelernt hatte, sich innerlich völlig abzuschotten, weil er es sonst nicht ertragen hätte.
Anne Westley hatte nichts mehr gesagt. Aber als Liza schließlich die Praxis verließ, dachte sie: Vielleicht meldet sie sich noch mal. Vielleicht bietet sie mir ihre Unterstützung an. Sie weiß es jetzt, und sie war ziemlich entsetzt.
Sie wusste nicht, ob sie die Vorstellung einer nun hartnäckig insistierenden Kinderärztin erschreckte oder hoffnungsvoll stimmte. Wahrscheinlich war beides der Fall. Sie hatte Angst, alles könnte schlimmer werden, wenn sich irgendjemand einmischte. Doch zugleich war da auch die Gewissheit, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, dass sie aber aus eigener Kraft die entscheidenden Schritte nicht würde gehen können. Ab und zu in den folgenden Tagen gab sie sich der Vorstellung hin, ein anderer würde sich ihres Falles annehmen und die Dinge – bei denen es sich im Grunde nur darum handeln konnte, dass irgendjemand, aber keinesfalls sie selbst, Anzeige gegen ihren Mann erstattete – ins Laufen bringen. Der Gedanke erfüllte sie abwechselnd mit Hoffnung und mit Panik. Sie durchlief eine Achterbahn der Gefühle, bis sie irgendwann begriff, dass nichts geschehen würde. Sie hörte nichts mehr von Dr. Westley.
»Und dann war das abgehakt«, hatte sie zu John gesagt, »innerlich abgehakt. Von Anne Westley würde keine Hilfe kommen.«
John gingen tausend Gedanken durch den Kopf, während er durch die nächtliche Stadt fuhr und sich immer wieder vergewissern musste, dass er keine Geschwindigkeitsbeschränkung überschritt. Er war aufgewühlt, und es drängten sich ihm, während er nachdachte, viel zu viele bestürzende Möglichkeiten auf.
Eine war die: Er hatte Dr. Stanford im Verdacht gehabt. Aber konnte es auch sein, dass er Liza selbst in Erwägung ziehen musste?
Diese Frau war durch die Hölle gegangen. Der Dreckskerl, mit dem sie verheiratet war, hatte einen Sadismus an ihr ausgetobt, der John erschütterte, und er war als ehemaliger Polizist viel gewohnt und nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Der Mann war krank, keine Frage. Aber war er ein Mörder?
Wie sehr hatte es Liza verbittert, von den beiden Frauen, die Bescheid wussten, keinerlei Hilfe zu erhalten? Hatte sie gerade von Geschlechtsgenossinnen erhöhte Solidarität erwartet und nicht verstehen können, warum ihr diese verweigert wurde? Sie hatte ohne Gefühlsregung davon erzählt. Sie hatte sogar abgestritten, auch nur einen Groll gegen die Frauen zu hegen. Ihre Stimme war gleichförmig ruhig gewesen, als sie davon sprach, ohne Höhen und Tiefen. John Burton erinnerte sich an Verhöre, da hatte sein Gegenüber genauso geklungen. Und sich später als Mörder oder skrupelloser Betrüger entpuppt.
Eines stand fest: Sowohl Carla Roberts als auch Anne Westley hätten Liza bereitwillig die Tür geöffnet und sie eingelassen.
War Liza untergetaucht, um einen Rachefeldzug zu starten?
Er schlug auf das Lenkrad. Verflucht, er verstrickte sich immer tiefer in den Fall. Erst Samson. Nun Liza. Beide wurden von der Polizei gesucht. Beide waren verdächtig. Von beiden kannte er den Aufenthaltsort.
Längst hätte er mit allem, was er wusste, zur Polizei gehen müssen. Er machte sich strafbar. Er lief sehenden Auges in eine Katastrophe.
Er war todmüde und zugleich vibrierend vor Adrenalin. Er kannte diese Mischung von früher, hatte sich ihr vor allem während langwieriger Observationen ausgesetzt gesehen. Erschlagen vor Erschöpfung, gequält von der Anstrengung, die brennenden Augen viel zu lange offen halten zu müssen. Und zugleich die Gefahr witternd, die
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