Beobachter
wohnte.
Er war endlich oben angekommen und klopfte an die hölzerne Tür. Sie war schwarz gestrichen, an den Ecken blätterte die Farbe ein wenig ab.
»Mrs. Caine-Roslin? Können Sie mir bitte öffnen?« Er lauschte angestrengt. »Hier ist Constable Meyers. Ich habe nur eine Frage an Sie.«
Nichts rührte sich. Er klopfte erneut, diesmal kräftiger. »Bitte, Mrs. Caine-Roslin. Polizei! Es geht nur um eine kurze Frage.«
Alles blieb vollkommen still.
Probeweise bewegte Meyers die Türklinke. Zu seinem Erstaunen gab sie nach. Die Tür öffnete sich nach innen. Sie war überhaupt nicht verschlossen gewesen.
Er keuchte, als ihn der widerliche Verwesungsgeruch traf, der aus der hermetisch abgedichteten Wohnung nach draußen strömte.
»Lieber Gott!« Er fingerte nach einem Taschentuch, fand zunächst keines, sah sich nach einem Fenster um, das er aufreißen konnte. Das Küchenfenster bot sich als nächstliegende Lösung an, und Meyers drängte sich an Tisch und Stühlen vorbei, drehte den Griff, riss das Fenster auf und lehnte sich weit hinaus. Kalte, klare Winterluft traf sein Gesicht. Es war knapp eine Minute vergangen, seitdem er draußen durch den Schnee gestapft war, und ihm kam es bereits vor, als habe er seit Ewigkeiten diese wunderbare Luft nicht mehr geatmet. Als sei er bereits Teil des Gestanks, der in dieser Wohnung herrschte.
Seine Finger, die noch immer sämtliche Taschen seiner Uniform durchsuchten, fanden endlich ein verknäultes Taschentuch und zogen es heraus. Meyers hasste, was er jetzt tun musste. Aber er war Polizist. Er musste dem Schrecken, der in dieser Wohnung auf ihn lauerte, auf den Grund gehen.
Er nahm einen tiefen Atemzug, dann presste er das Taschentuch vor Mund und Nase und wandte sich wieder von dem Fenster ab. Er sah sich in der Küche um. Sie schien sauber und ordentlich aufgeräumt zu sein, wenngleich alle Möbel mit einer dünnen Staubschicht überzogen waren. Auf dem Tisch standen zwei Teller, auf denen nicht näher definierbare Essensreste vor sich hin gammelten. Sie waren mit bläulich weißem Flaum überzogen und trugen sicherlich einen Teil zu dem Geruch in der Wohnung bei, konnten aber leider keineswegs allein dafür verantwortlich sein. Zwei halb gefüllte Weingläser und eine Weinflasche standen daneben. Ein hochwertiger Wein, wie Meyers am Etikett erkannte. Was immer mit Lucy Caine-Roslin geschehen war – und allem Anschein nach konnte das nichts Gutes gewesen sein –, es hatte sie bei einer Mahlzeit unterbrochen. Einer Mahlzeit, bei der sie offenkundig nicht allein gewesen war.
Auf der Anrichte entdeckte er eine braune Papiertüte. Der Aufdruck verriet, dass es sich bei dem Essen um ein Fertiggericht aus einem chinesischen Take-away gehandelt haben musste. Jemand hatte die alte Frau besucht. Hatte die Bewirtung gleich selbst mitgebracht. Und dann …?
Er verließ die Küche. Er wusste, dass die eigentliche Herausforderung noch auf ihn wartete.
Er fand Lucy Caine-Roslin in einem Kinderzimmer. Jedenfalls schien es das zu sein: ein ehemaliges Kinderzimmer. Oder Teenagerzimmer. Eine Schlafcouch, abgedeckt mit einer geblümten Patchworkdecke. Vorhänge mit demselben Muster an den Fenstern. Ein Kleiderschrank, dessen eine Tür offen stand und den Inhalt, zwei Pullover auf Kleiderbügeln hängend, sichtbar machte. Ein paar Poster an den Wänden, eines davon schien Cat Stevens zu zeigen, wenn Meyers das richtig erkannte. Es gab noch einen Sessel, auf dem ein paar Zeitschriften und bekritzelte Papiere lagen. An der Wand entlang standen hölzerne Regale, darauf – säuberlich aufgereiht und von Plastikstützen rechts und links gehalten – mehrere Kinder- und Jugendbücher, wie man aus den Titeln und der Farbgestaltung ersehen konnte. Meyers dachte später, dass es das gewesen war, was ihn sofort auf den Gedanken gebracht hatte, es mit dem Zimmer eines jungen Menschen zu tun zu haben: die Bücher und das Bild von Cat Stevens an der Wand.
Lucy Caine-Roslin lag in der Mitte des Raums auf dem Rücken und sah aus wie eine dunkel angelaufene, aufgeblähte Hauthülle, die einmal ein Mensch gewesen war. Kälte und trockene Luft in der schwach geheizten Wohnung hatten sie jedoch besser konserviert, als das unter weniger günstigen Umständen der Fall gewesen wäre. Ihr Gesicht war relativ gut erhalten, nur die Augen – oder das, was von ihnen übrig geblieben war – mochte Meyers nicht näher betrachten. Es fiel ihm ohnehin schwer genug, die Fassung zu wahren.
Normalerweise
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