Beobachter
hätte er angenommen, dass der Tod der alten Frau zwar bedauerlich, aber zumindest natürlichen Ursprungs war: Vielleicht war ihr schlecht geworden, nachdem ihr Besucher schon wieder gegangen war und bevor sie die Küche hatte aufräumen können. Dieser Vermutung widersprach jedoch der Umstand, dass im Mund der Toten irgendetwas zu stecken schien, etwas Großes und zunächst Undefinierbares. Mit absoluter Selbstbeherrschung trat Meyers näher heran und beugte sich tiefer über den stinkenden Leichnam. Ein Tuch. Ein großes kariertes Tuch. Könnte ein Geschirrtuch sein.
Jemand hatte es ihr gewaltsam in den Rachen gestopft.
Und ihr mit mehreren Streifen Paketklebeband die Nase verschlossen.
Er richtete sich wieder auf, trat ans Fenster, öffnete auch dieses. Er lehnte sich hinaus und nahm zum zweiten Mal einen tiefen Zug der frischen Luft.
»Meine Güte«, murmelte er und wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn, die feucht von Schweiß war.
Der Tod der alten Lucy Caine-Roslin wäre eigentlich keine große Sache gewesen. Eine alte Frau, die offenbar wochenlang schon tot in ihrer Wohnung lag, ohne dass irgendjemand dies bemerkt hatte. Ihre Einsamkeit war tragisch, jedoch nicht ungewöhnlich. Viele Menschen, gerade ältere, hatten niemanden mehr, der zu ihnen gehörte, und wenn sie starben, nahm das niemand zur Kenntnis. Im Falle von Lucy Caine-Roslin mutete dies dennoch ein wenig seltsam an, da es zumindest die Tochter in London gab. Aber auch diese schien nicht bemerkt zu haben, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Vielleicht hatte sie mit dem Leben in Gorton abgeschlossen. Meyers wandte sich wieder vom Fenster ab und musterte den Raum. Er passte zu dem, was er bisher von der Wohnung gesehen hatte: freundlich und sauber, aber es war auch klar, dass die Familie nie viel Geld gehabt hatte. Die Möbel waren schlicht, Vorhänge und Decken vermutlich selbst genäht. Die Wohnung, in der die Staatsanwältin aufgewachsen war? Ihr Leben heute sah wahrscheinlich ganz anders aus.
Aber Lucy Caine-Roslin war nicht einfach an einem Herzinfarkt gestorben. Jemand hatte ihr ein Geschirrtuch in den Hals geschoben. Möglicherweise war sie daran erstickt. Wie es aussah, war Lucy Caine-Roslin ermordet worden. Eine alte Frau, bei der ganz sicher keine Wertgegenstände zu holen waren. Wem brachte es etwas, sie zu töten?
Meyers entsann sich seines Auftrags. Die Tochter. Er war losgeschickt worden, um die Tochter aufzustöbern.
Obwohl er davon ausging, dass er sich allein in der Wohnung befand, schaute er sicherheitshalber noch einmal in alle Räume. Die Wohnung war größer, als es von außen den Anschein hatte. Es gab ein Wohnzimmer, ein Esszimmer, ein Schlafzimmer und ein Badezimmer. Alles war blitzblank geputzt. Im Wohnzimmer standen eine Teekanne und eine Tasse auf dem Tisch; der Tee, der einst in der Tasse gewesen war, ehe er getrunken wurde oder verdunstet war, hatte braune Ränder hinterlassen. Ein Häkeldeckchen im Sessel, die Nadel steckte noch darin. An den Fenstern standen Usambaraveilchen, die allerdings inzwischen vertrocknet waren. Obwohl Lucy Caine-Roslin überfordert gewesen war, die Fassade ihres Hauses und den Hof draußen wirklich in Ordnung zu halten, hatte sie doch hier drinnen alles perfekt in Schuss gehabt.
Aber wie auch immer: Die gesuchte Staatsanwältin hielt sich jedenfalls nicht in ihrem Elternhaus auf.
Meyers zückte sein Handy. Nun musste er erst einmal Verstärkung anfordern. Lucy Caine-Roslin war gestorben, ohne dass es jemand bemerkt hatte, aber nun würde ihr Tod ganz genau untersucht werden. Das war alles, was man für die alte Frau noch tun konnte.
2
Sie war eingeschlafen, was sie zunächst nicht für möglich gehalten hatte. Ihre Erschöpfung hatte über Entsetzen, Übelkeit und über ihre aufgeregte Fassungslosigkeit gesiegt. Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht. Geweckt hatte sie ein heftiges Rucken des Autos und gleich darauf das Geräusch durchdrehender Räder und das Aufheulen des Motors.
Sie kommt nicht weiter, dachte sie.
Sie. Ihre beste Freundin. Eine Vertraute. Ein Mensch, den sie seit Jahren kannte und der ihr plötzlich vollkommen fremd geworden war.
Sie konnte hören, wie Tara ausstieg und die Tür hinter sich zuwarf. Gleich darauf wurde die Heckklappe des Autos aufgerissen. Eiskalte Luft flutete in das Innere des Wagens, drang sogar unter die furchtbare, erstickend heiße Decke. Diese wurde im nächsten Moment weggezogen. Sofort kniff Gillian beide Augen fest
Weitere Kostenlose Bücher