Beobachter
Erklärungen für ihr Verhalten vorstellen, und auch ihr Engagement im Falle Liza Stanford rückte sie nicht automatisch an die Stelle einer Tatverdächtigen. Dennoch alarmierte ihn diese Häufung seltsamer Geschehnisse.
Und ihn ängstigte die Tatsache, dass beide Frauen plötzlich spurlos verschwunden waren.
Kurz entschlossen ließ er den Motor an und wendete den Wagen ziemlich waghalsig auf der Straße, was ihm das wütende Hupen eines anderen Autofahrers einbrachte.
Er fuhr Richtung Scotland Yard.
SAMSTAG, 16. JANUAR
1
Constable Rick Meyers hatte sich auf einen eher beschaulichen Samstagmorgen im Polizeirevier eingestellt. Er hatte Wochenendbereitschaftsdienst, aber er vermutete, dass nicht viel passieren und er daher die Zeit finden würde, etliche Schreibarbeiten, die sich auf seinem Tisch stapelten, endlich zu erledigen. Die verschneite Welt draußen schien still und friedlich und erstrahlte in unschuldigem Weiß. Vielleicht suggerierte ihm bloß das Wetter, es werde sich an diesem Tag nichts Besonderes ereignen. Er war jedenfalls regelrecht entsetzt, als plötzlich sein Vorgesetzter aufkreuzte und ihm einen Zettel vor die Nase hielt.
»Wir müssen da etwas überprüfen. Anfrage von Scotland Yard in London. Es geht um eine Mrs. Lucy Caine-Roslin. Wohnt in der Reddish Lane.«
»Reddish Lane? In Gorton?«
»Ja. Leider müssen Sie da hinfahren.«
»Worum geht es denn?«, fragte Meyers. Er hatte sich gerade in die Berichte vertieft, die er schreiben musste.
»Es könnte sein, dass sich ihre Tochter bei ihr aufhält. Und eben das müssen wir herausfinden. Scotland Yard hat einige wichtige Fragen an sie.«
»An die Tochter?«, fragte Meyers begriffsstutzig.
»Ja. Die ist verschwunden, muss aber dringend befragt werden, und es besteht die Möglichkeit, dass sie zu ihrer Mutter gefahren ist. Die Tochter heißt«, der Vorgesetzte blickte auf seinen Zettel, »Tara Caine. Staatsanwältin aus London.«
»Staatsanwältin? Echt? Und die stammt aus so einer Ecke?«
»Offensichtlich.«
»Und weshalb rufen wir bei dieser Lucy Caine-Roslin nicht einfach erst einmal an?«, fragte Meyers, während er schwerfällig aufstand. Er ahnte, dass diese Idee den anderen auch schon gekommen war und dass es einen Grund gab, weswegen sie nicht umgesetzt werden konnte, sodass ihn dieser Einfall nun nicht davor retten würde, in eine der weniger angenehmen Gegenden von Manchester zu fahren, um nach irgendeiner alten Schachtel zu suchen.
»Das wurde mehrfach versucht. Es geht dort niemand ans Telefon. Es hilft nichts. Sie müssen da rasch vorbeifahren. Wir können Scotland Yard nicht ignorieren.«
Wenigstens gab es an diesem noch frühen Samstagmorgen kaum Verkehr, und die Räumdienste hatten zudem in den letzten Tagen überall gute Arbeit geleistet. Rick Meyers kam gut voran. Trotzdem hätte er diesen Job jetzt nicht gebraucht, und das nicht nur, weil er seine Arbeitsplanung durcheinanderbrachte. Kein Polizist fuhr gern nach Gorton im Süden Manchesters, selbst dann nicht, wenn es nur darum ging, eine alte Frau aufzustöbern. In dieser Gegend konnte jede noch so harmlos anmutende Aufgabe in einem Fiasko enden. Es gab bessere und schlechtere Ecken dort, und die schlechteren bestanden zu einem guten Teil aus abbruchreifen Häusern, in denen Junkies lebten, die nicht lange fackelten, wenn sich ihnen eine Gelegenheit bot, an Geld für die nächste Spritze zu kommen. Wer hierherzog, war am untersten Ende der sozialen Leiter angekommen, tiefer konnte er praktisch nicht mehr fallen. Die Gewaltbereitschaft war hoch, jeder Polizist galt als höchst unwillkommener Eindringling. Und Meyers war kein Held. Er fragte sich oft, wie er so bescheuert hatte sein können, ausgerechnet bei der Polizei sein Brot verdienen zu wollen.
Auch an diesem Morgen stellte er sich die Frage, aber wie immer fiel ihm keine Antwort dazu ein.
Das Straßenbild veränderte sich langsam. In Gorton stand man nicht plötzlich, Gorton kündigte sich schleichend an. Die Wohnhäuser entlang der Straßen wurden allmählich schäbiger. Kleine Grünflächen seltener, bis sie schließlich ganz verschwanden. Dann ein Industriegebiet, das verlassen aussah und selbst unter der dicken Schneedecke nichts von seiner Trostlosigkeit einbüßte. Ein Textil-Outlet, zu dem an diesem Morgen niemand den Weg zu finden schien. Ein Schrottabladeplatz. Direkt daneben gammelte eine Reihenhauskette vor sich hin. Nur der Müll, der sich – teils in Plastiksäcken, teils einfach so aus dem
Weitere Kostenlose Bücher