Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beobachter

Beobachter

Titel: Beobachter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Link
Vom Netzwerk:
zu. Das helle Tageslicht schmerzte höllisch nach den vielen Stunden in der Dunkelheit.
    »So. Weiter geht’s nicht«, sagte Tara. »Der Schnee liegt zu hoch. Aussteigen!« Während sie sprach, zog sie ein Messer hervor, ließ die Klinge aufspringen und schnitt das Klebeband durch, das Gillians Fußknöchel zusammengehalten hatte.
    »Komm raus!«, befahl sie.
    Gillian versuchte sich aufzurichten und stöhnte gleich darauf vor Schmerzen. Sie hatte zu lange in einer unbequemen Lage ausharren müssen, auf dem harten Boden des Kofferraums, gerüttelt und geschüttelt von einem Auto, das sich über schwer passierbare Straßen gekämpft hatte. Sie spürte jetzt jeden einzelnen Knochen, alle Glieder. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich bewegen sollte. Als es ihr schließlich gelang, wenigstens die Augen zu öffnen und blinzelnd ihre Umgebung wahrzunehmen, konnte sie Tara als großen, dunklen Schatten vor dem Kofferraum wahrnehmen. Über ihr bleigrauer Himmel. Hinter ihr schneebedeckte Weite. Nichts, was an ein Haus oder an eine Siedlung erinnert hätte.
    Wir sind fernab jeder menschlichen Behausung. Wir sind vollkommen allein.
    »Mach schon«, drängte Tara.
    Und als es Gillian noch immer nicht gelang, sich zu rühren, beugte sich Tara vor, packte sie unter beiden Armen und zog sie nach draußen. Sie tat das mit einer überraschenden Kraft. Da Gillian sich nicht auf den Beinen halten konnte, fiel sie der Länge nach in den Schnee. Er war weich und kalt, aber nach einer Sekunde schon wurden die winzigen Kristalle in ihrer Härte erkennbar. Sie schnitten schmerzhaft in Gillians Gesichtshaut. Unartikulierte Jammerlaute ausstoßend hob sie den Kopf und rappelte sich auf. Da ihre Hände noch immer gefesselt waren, fiel es ihr schwer, das Gleichgewicht zu erlangen.
    Tara half ihr auf die Füße. »Das wird besser werden. Deine Muskeln werden sich entspannen. Wir haben noch einen ziemlichen Fußmarsch vor uns.«
    Gillian kämpfte gegen den Schwindel, der sie befiel, kaum dass sie auf den Beinen stand. Sie merkte, dass sie entsetzlichen Durst hatte. Seit dem Mittag des vergangenen Tages hatte sie nichts mehr getrunken, und das Klebeband vor ihrem Mund, die Hitze im Auto hatten sie völlig austrocknen lassen. Verzweifelt versuchte sie, Tara dies klarzumachen. Sie spürte genau, dass sie nicht weit kommen würde, wenn sie nicht etwas zu trinken bekam.
    Tara schien zu überlegen, dann griff sie in Gillians Gesicht und riss ihr mit einem kräftigen Ruck das Klebeband herunter. Es war mehrfach um den Kopf gewickelt und so mit den Haaren verklebt, dass sie es nicht entfernen konnte, aber zumindest gelang es ihr, das Band unter das Kinn zu zerren, wo es hängen blieb.
    »Wasser«, krächzte Gillian.
    Tara öffnete die Autotür und holte eine Flasche Mineralwasser, die sich in der Tasche auf dem Rücksitz befand. Da Gillian wegen ihrer gefesselten Hände nicht allein trinken konnte, schraubte Tara den Verschluss ab und hielt ihr die Flasche an die Lippen. Gillian trank gierig und wie eine Verdurstende.
    »Bitte«, sagte sie, als sie fertig war, »bitte nicht mehr den Mund zukleben.«
    »Fühlt sich blöd an, so wenig Luft zu bekommen, stimmt’s?«, gab Tara zurück, und es klang fast mitfühlend. »In Ordnung, ich sage dir was: Ich lasse das Klebeband unten. Hier ist sowieso niemand, der dich hören könnte, wenn du schreist. Trotzdem, wenn du irgendeinen Mist baust, um Hilfe rufst oder wegzulaufen versuchst oder sonst etwas, dann klebe ich dich so zu, dass dir Hören und Sehen vergehen. Ist das klar?«
    »Ja«, sagte Gillian. Sie schaute sich um. Schneebedeckte Weite, so weit das Auge reichte. Eine hügelige Landschaft. In der Ferne ein Wald. Die Straße, auf der sie gekommen waren, war einigermaßen geräumt, bedeckt nur mit einer flachen, harten Schneeschicht. Nirgends war ein Dorf zu entdecken. Tara hatte recht: Sie könnte schreien, so viel sie wollte, niemand würde sie hören. Und weglaufen: Wie weit würde sie kommen? Tara hätte sie sofort eingeholt. Mit den auf den Rücken gefesselten Händen würde sie sich nur schwerfällig bewegen können. Sie hatte keine Chance.
    »Wo sind wir?«, fragte sie.
    Tara öffnete ihre große Handtasche und räumte einige Lebensmittel hinein; eingeschweißtes Brot und zwei Plastikflaschen mit Wasser. Sie nahm ihre Pistole in die Hand.
    »Peak District«, sagte sie. »Sozusagen in der Mitte von Nirgendwo.«
    Peak District. Der große Nationalpark im Norden Englands.

Weitere Kostenlose Bücher