Beobachter
nichts überstürzen. Was sollen wir in einer Wohnung herumsitzen und aus dem Fenster starren? Komm, lass es uns wagen! Lass uns noch einmal etwas Neues versuchen!«
Es war ihnen tatsächlich gelungen, das Haus zu erwerben. Genau genommen war das auch nicht schwer gewesen, denn es gab niemanden sonst, der es haben wollte. Das Haus gehörte der Gemeinde Tunbridge Wells, und die war froh, es los zu sein.
Und von da an hatten sie ihre gesamte Freizeit, jedes Wochenende und alle Ferien, dort im Wald verbracht und das Haus renoviert, Stück für Stück, in mühevoller Arbeit, die ihnen aber, wie Anne überrascht festgestellt hatte, eine Menge Befriedigung verschaffte. Sie hatten altes Parkett abgeschliffen, Küche und Bäder gefliest, Wände gestrichen, neue Fenster einsetzen lassen, Wände herausgebrochen und großzügige Räume geschaffen, wo vorher eine Vielzahl kleiner verschachtelter Zimmer gewesen waren. Sie hatten eine weitläufige Holzterrasse nach Süden hin angelegt, mit einem Geländer, das sie umschloss, und Stufen, die in den Garten führten. Sie hatten ein paar Bäume gefällt, um mehr Licht und Sonne zu bekommen. Und Anne hatte sich oben unter dem Dach ein Atelier ausgebaut. Einige Jahre zuvor hatte sie das Malen entdeckt. Es war zu einer Leidenschaft geworden.
Sie überlegte, ob sie hinausgehen sollte, aber um wirklich zu sehen, ob dort irgendwo ein Auto parkte, müsste sie bis nach vorne zum Tor laufen. Sie schreckte vor der Kälte zurück, die sie draußen erwartete. Außerdem würde sie wahrscheinlich wieder nichts entdecken. Vielleicht hatte sie sich den Lichtschein diesmal auch wirklich nur eingebildet. Immerhin hatte sie gedöst. Möglicherweise sogar geschlafen.
Aber irgendetwas hatte sie aufgeweckt.
Sie versuchte, das unheimliche Gefühl zu verdrängen, das sie beschlich. Sie war wirklich vollkommen allein hier draußen. Tagsüber kam sie damit ganz gut zurecht, aber abends musste sie sich manchmal zusammenreißen, um sich nicht allerlei beunruhigenden Gedanken hinzugeben.
Sie schaltete das Licht wieder ein, ging in die Küche hinüber – eine wunderschöne Küche aus weißgebeiztem Holz, mit einem Herd in der Mitte des Raumes und einer großen Theke gegenüber der Terrassentür, an der man frühstücken, Zeitung lesen, einen Kaffee zwischendurch trinken konnte. Sie schenkte sich einen Schnaps ein, kippte ihn in einem Schwung hinunter, nahm noch einen. Normalerweise reagierte sie nicht mit Alkohol auf Probleme, aber für den Augenblick schien der Schnaps sie tatsächlich etwas zu beruhigen.
Sie hatte nicht einmal nach Seans Tod versucht, sich mit Alkohol zu trösten. Überhaupt hatte sie keinerlei Hilfe in Anspruch genommen. Ihrer Erfahrung nach half Arbeit am besten über seelische Probleme hinweg, und so hatte sie sich auf den Garten gestürzt, viel gemalt und so das schlimme erste Jahr überstanden. Nun waren weitere zweieinhalb Jahre vergangen, und sie hatte alles im Griff. Sich, ihren Schmerz, das Leben hier draußen in der Abgeschiedenheit.
Sean war gestorben, als alles fertig war. Mitten im Sommer, wenige Wochen nach seinem 65. Geburtstag. Im Juni war er aus dem Berufsleben ausgeschieden, vier Wochen nachdem sich auch Anne aus ihrer Praxis als Kinderärztin verabschiedet und in den Ruhestand zurückgezogen hatte. Anfang Juli wollten sie die Einweihung des neuen Hauses feiern, in ihrem Garten, der im blühenden Jasmin zu versinken schien. Sie hatten fast achtzig Leute eingeladen, beinahe alle hatten zugesagt. Am Tag vor dem Fest war Sean auf das Hausdach geklettert, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, entlang der Regenrinne eine bunte Lichterkette zu befestigen. Beim Abstieg hatte er die oberste Sprosse der Leiter verfehlt und war hinuntergestürzt. Was zunächst nicht allzu dramatisch aussah, denn er hatte sich zwar den Oberschenkelhals gebrochen, aber sonst war nichts passiert. Natürlich war er wütend und enttäuscht darüber, im Krankenhaus zu liegen und sein Fest absagen zu müssen. Aber dann hatte er eine Lungenentzündung bekommen, keinerlei Antibiotika schlugen an, und innerhalb von vier Wochen war er tot, noch ehe Anne wirklich begriff, was eigentlich geschah.
Sie hatte ihn beerdigt, und irgendwann im November war sie ihrerseits auf das Dach geklettert und hatte die Lichterkette abgenommen, die noch immer dort hing, eine blöde, bunte Kette, die bei Gott nicht wert gewesen war, was sie verursacht hatte.
Der zweite Schnaps entspannte Anne endgültig. Sie kam zu dem
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