Beobachter
Stimme klang so scharf, dass sich Lucy tatsächlich wieder auf ihren Stuhl sinken ließ. »Diesmal wimmelst du mich nicht ab, und du läufst auch nicht davon. Du bleibst hier sitzen und beantwortest meine Fragen. Verstanden?«
»Wie redest du denn mit mir?«
»Wie du es verdienst, Mum. Genau so. Wie es eine Mutter verdient, die fünf Jahre lang zusieht, wie ihre kleine Tochter vom Stiefvater vergewaltigt wird, und die nicht ein einziges Mal eingreift. Nicht ein Mal! «
»Fünf Jahre«, sagte Lucy, »dass du immer so übertreibst!«
»Fünf Jahre, Mum, und das weißt du genau! Ich war neun, als er anfing. Ein halbes Jahr nach eurer verdammten Hochzeit. Und ich war vierzehn, als er aufhörte. Weil ich Gott sei Dank endlich die Formen einer Frau annahm und er nichts mehr mit mir anfangen konnte.«
»Was willst du?«, fragte Lucy. Ihr Atem ging schneller, irgendwo in ihrer Brust entstand ein ungesundes Geräusch. »Mich in einen Asthmaanfall treiben? Mich umbringen?«
»Hör doch auf mit deinem Asthma! Du hattest nie welches! Du fängst nur immer an zu röcheln, wenn die Dinge irgendwie unangenehm werden. Aber das zieht bei mir nicht mehr.«
»Ich möchte wirklich wissen …«, setzte Lucy an, aber Tara unterbrach sie mit schneidender Stimme: »Nein. Ich möchte etwas wissen! Ich möchte wissen, warum du es zugelassen hast. Warum du mir nicht geholfen hast. Warum du mich nicht beschützt hast. Warum du diesen widerlichen Bastard nicht vor die Tür gesetzt und ihm einen kräftigen Tritt gegeben hast!«
Lucy griff nach einem Taschentuch. Gleich würde sie zu weinen anfangen. »Ich bin alt. Ich habe niemanden auf der Welt. Nur dich. Und nun kommst du her und quälst mich! Eine alte Frau, die sich nicht wehren kann!«
»Was war mit dem Kind, das sich nicht wehren konnte?«
Lucy betupfte ihre Augen. »Meine Güte! Du tust so, als ob …«
»Ja?«, fragte Tara.
»Als ob etwas Schlimmes vorgefallen wäre. Nur weil Ted dich mochte. Er war ein gutherziger Kerl. So leicht hätte ich keinen anderen gefunden. Wer heiratet eine verwitwete Frau mit Kind? Ohne dich hätte ich bessere Karten gehabt, so musst du das auch einmal sehen.«
Später erinnerte sich Tara, dass dies der Moment gewesen war, als der Schwindel einsetzte. Ganz schwach nur. Aber sie hatte gemerkt, dass etwas in ihr passierte. Dass ihr Blick nicht mehr klar war und dass es in ihren Ohren leise zu rauschen begann.
»Du meinst also, es ist nichts Schlimmes vorgefallen?«, fragte sie leise. »Ist es für dich normal, wenn ein erwachsener Mann von bald fünfzig Jahren Nacht für Nacht in das Bett eines neunjährigen Mädchens steigt? Ihm den Mund zuhält, wenn es zu schreien versucht? Ihm erklärt, dass es in ein Waisenhaus kommt, wenn es irgendjemandem etwas sagt? Findest du das nicht schlimm ?«
Lucy putzte sich die Nase. Sie hatte sich wieder im Griff. »Für mich war es auch nicht leicht.«
»Ach! Wirklich?«
»Du siehst immer nur dich«, sagte Lucy. »Meine Situation ist dir gleichgültig. Ich musste damit leben, dass er mich ablehnte. Ich konnte machen, was ich wollte, er ignorierte mich. Er stierte hinter dir her. Er wartete am Hoftor, wenn du aus der Schule kamst. Er verfolgte dich mit seinen Blicken. Immerzu. Während ich Luft für ihn war. Nicht vorhanden. Als Frau. Ich kochte ihm das Essen und wusch seine Wäsche, ich putzte die Wohnung, hielt alles schön sauber und gemütlich. Ich zwackte vom Haushaltsgeld ab, was nur ging, um mir hübsche Sachen zu kaufen. Um schön zu sein für ihn. Aber er nahm das gar nicht wahr. Er nahm mich nicht wahr.«
Das Rauschen in den Ohren wurde stärker.
»Du warst eine erwachsene Frau. Ich war ein Kind !«
Plötzlich, nur für den Bruchteil einer Sekunde, trat ein Ausdruck von Hass in Lucys Augen. »Ein Kind! Ein ganz schön berechnendes kleines Ding warst du! Jung! Und das hast du ausgespielt! Mit deinen engen Jeans, deinen knappen T-Shirts. Du hast es genossen, mich auszustechen. Mich wie eine alte Schachtel aussehen zu lassen. Mit fünfunddreißig! Ich war noch nicht alt. Ich war hübsch. Aber ich kam nicht gegen dich an!«
Tara merkte nicht, dass sie aufstand. Die Küche schwankte um sie herum. Es war zwecklos. Sie würden nichts klären. Jetzt nicht und nie. Ihre Mutter würde nicht bereuen. Sie würde nicht einmal verstehen.
Ihre Mutter fühlte sich als das eigentliche Opfer.
»Ich glaube, ich kann dir nicht verzeihen, Mum«, sagte sie.
Auch Lucy erhob sich. Automatisch, wie sie es immer tat, griff
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