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Beobachter

Beobachter

Titel: Beobachter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Link
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zu müssen, hatte sich im Alter mit ihrer Situation angefreundet. Sie kam mit dem Alleinsein erstaunlich gut zurecht.
    Wie immer war die Wohnungstür nicht abgeschlossen, und Tara fand Lucy im Wohnzimmer, dessen Fenster zum Hof und zur Werkstatt hinausgingen. Lucy saß natürlich vor dem Fernseher. Gleichzeitig arbeitete sie an einem der vielen albernen Häkeldeckchen, die sie überall in der Wohnung als Untersetzer verteilte. Sie trug eine dicke, flauschige Strickjacke und Fellpantoffeln an den Füßen, denn es war nicht sehr warm in der Wohnung. Lucy sparte immer an den Heizkosten. Vor sich auf dem Tisch hatte sie eine Kanne mit Tee stehen.
    Lucy hatte sich gefreut, ihre Tochter zu sehen, zumindest auf jene verhaltene Art, die typisch für alle ihre Emotionen war. Da das Esszimmer überhaupt nicht geheizt war, deckten sie und Tara in der Küche den Tisch. Tara hatte Essen vom Chinesen mitgebracht, außerdem einen teuren Rotwein aus London. Lucys Wangen begannen schon nach den ersten Schlucken zu glühen, und sie bekam glänzende Augen.
    »Das ist ja wie Weihnachten«, sagte sie.
    Tara beugte sich vor. Sie hatte ein paar Schlucke Wein getrunken, ihr Essen aber fast unberührt gelassen. Sie hatte keinen Hunger.
    »Mum, ich bin gekommen, um etwas mit dir zu besprechen«, sagte sie. Obwohl sie zuvor gefröstelt hatte, merkte sie nun, dass ihr am ganzen Körper heiß wurde. »Es gibt etwas, worüber wir reden müssen.«
    Lucy sah sie aus arglosen Augen an. »Ja?«
    »Ted«, sagte Tara. »Ted Roslin.«
    Lucy schien verwirrt. »Was ist mit ihm?«
    »Wir haben nie über ihn gesprochen.«
    Lucy wiegte bedauernd den Kopf. »Und nun ist er schon so lange tot! Du solltest mal wieder zum Friedhof gehen. Ich war vor ein paar Tagen dort. Ich habe einen Topf mit Heidekraut neben den Grabstein gestellt. Es sieht hübsch aus.«
    »Ich?« Tara wusste, dass sie aggressiv klang, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen. »Warum sollte ich zum Grab von Ted gehen? Ich könnte das Grab meines Vaters besuchen, ja, aber seines bestimmt nicht! Hast du Dad übrigens auch Heidekraut gebracht?«
    »Natürlich. Was hast du? Du bist so zornig.«
    »Nein. Ich bin nicht zornig. Tut mir leid, wenn dir das gerade so vorkam.« Tara war über sich selbst erstaunt. Sie kämpfte innerlich mit den schlimmsten Aggressionen, ausgelöst einfach durch den bloßen Anblick ihrer Mutter, aber es gelang ihr, ruhig und freundlich zu klingen. Der Beruf, dachte sie. Sie hatte gelernt, sich gegenüber den übelsten Subjekten jeweils so zu verhalten, wie es am vielversprechendsten erschien, um sie dahin zu bekommen, wo sie sie haben wollte. Als Staatsanwältin machte es keinen Sinn, den Mann, der ihr gegenübersaß und der sein vier Monate altes Baby totgeschlagen hatte, weil das Geschrei ihn störte, wüst zu attackieren und ihm zu erklären, was sie tatsächlich von ihm hielt. Es konnte von Vorteil sein, ihm mit so viel Verständnis und Freundlichkeit zu begegnen, dass er schließlich in Tränen ausbrach und schluchzend ein Geständnis ablegte, weil er das Gefühl hatte, dieser mütterlichen Frau alles anvertrauen zu können. Danach konnte sie in aller Ruhe die Höchststrafe fordern. Es hatte oft funktioniert.
    »Mum, ich möchte einfach etwas verstehen. Das ist der Grund, weshalb ich heute hierhergekommen bin. Umgekehrt ist die Tatsache, dass ich es bislang nicht verstehe, der Grund dafür, dass ich mich so selten bei dir blicken lasse. Obwohl ich viel mehr für dich tun könnte.«
    »Ich verstehe nicht«, sagte Lucy. Ein Ausdruck von Wachsamkeit hatte sich in ihre Augen geschlichen.
    »Wir müssen uns aussprechen«, sagte Tara, »damit wir eine Zukunft haben, in der wir gut miteinander umgehen können.«
    »Ja?«
    »Es geht, wie gesagt, um Ted.« Sie beobachtete ihre Mutter genau. »Du weißt, was er mir angetan hat.«
    Lucy klappte zu wie eine Auster. Man konnte es genau auf ihrem Gesicht sehen. »Fängst du schon wieder damit an?«
    »Schon wieder?« Tara starrte ihre Mutter an. »Sagtest du, schon wieder ?Wann habe ich denn je davon angefangen?«
    »Früher«, erklärte Lucy, »früher bist du doch ein paar Mal angekommen … hast mir das Leben schwer machen wollen …« Sie stand auf. »Nun dachte ich wirklich, du willst einen netten Abend mit mir verbringen«, sagte sie gekränkt, »du hast Sehnsucht nach deiner Mutter, du möchtest ein bisschen plaudern, und nun greifst du mich an und machst Vorwürfe und …«
    »Setz dich hin, Mum«, befahl Tara. Ihre

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