Beobachter
sie nach dem Küchentuch, das neben dem Herd hing, und wischte einen kleinen Klecks Soße von der Tischplatte.
»Was denn verzeihen?«, fragte sie. Sie klang weder zynisch noch ironisch. Nicht einmal bitter oder verletzt in diesem Moment.
Sie klang einfach nur … fragend.
Und all der Schmerz war wieder da. Alle Verlassenheit. Alle Verzweiflung. Alles Entsetzen. Alle Hilflosigkeit. Alle Angst. Die unendliche Pein. Die versiegende Hoffnung.
Und sie begriff, es hatte sie nie verlassen. Und würde sie nie verlassen: das Gefühl, vollkommen allein auf der Welt zu sein. Zu niemandem zu gehören. Niemanden zu haben. Im freien Fall in der Hölle. Verraten von der Frau, die der erste Mensch in ihrem Leben gewesen war: von der Frau, die sie geboren hatte.
Und in diesem Moment war ihr Blick auf das rot-weiß karierte Geschirrtuch gefallen, mit dem ihre Mutter die Tischplatte bearbeitete.
»Du hast ja immer noch dieselben alten Geschirrtücher«, hörte sie sich sagen.
Es war der Augenblick, in dem sie die Kontrolle verlor.
Sie hatte nicht geahnt, wie wunderbar es sich anfühlte.
11
Sie stieß einen Triumphschrei aus. In der vollkommenen Stille, die sie umgab, klang er lauter, als er vermutlich gewesen war.
»Wahnsinn!«, schrie sie.
Sie hielt das Tischbein in der Hand. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie schätzte, dass es eine gute Dreiviertelstunde gedauert hatte, bis sie den Leim vollständig abgelöst hatte. Dann hatte sie wieder und wieder an dem Bein gedreht und gerüttelt. Und plötzlich, als sie schon glaubte, ihre Kräfte würden sie endgültig verlassen, als ihr der Schweiß schon in Strömen über Gesicht und Körper lief, da gab die Schraube nach. Gillian konnte das Tischbein so glatt aus seiner Verankerung ziehen, als habe überhaupt nie ein Problem bestanden.
Ich glaube es nicht! Es hat funktioniert! Es hat wirklich funktioniert!
Sie brauchte eine Minute, um wieder zu Kräften zu kommen. Sie sank auf das Sofa, wischte sich den Schweiß von der Stirn, versuchte, ihren keuchenden Atem zu beruhigen. Nur einen Moment. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Tara konnte jetzt jeden Augenblick zurückkehren. Tara war inzwischen ihr schlimmster Feind, stellte ihre größte Bedrohung dar. Und sie würde es nicht ein zweites Mal riskieren, sie einfach bloß in eine abgelegene Hütte, die zugegebenermaßen fast so gut wie Fort Knox gesichert war, einzusperren und auf die Wirkung der Minusgrade zu bauen. Diesmal würde sie sie sofort erledigen. Ersticken mit einem tief in den Rachen geschobenen Geschirrtuch. Wie sie es mit ihrer Mutter getan hatte. Und mit Carla Roberts und Anne Westley.
Vorhin, hier in der Hütte, als Gillian zusammengekauert auf dem alten Sofa saß und Tara am Ofen lehnte, da hatte sie über das Problem der unterlassenen Hilfeleistung gesprochen. Doziert. Gillian hatte nicht den Eindruck gehabt, dass von ihr eine Antwort erwartet wurde, daher hatte sie geschwiegen.
Die unterlassene Hilfeleistung wird als Delikt viel zu stiefmütterlich behandelt. In unserer Gesellschaft und im Strafrecht. Letztlich halten viele sie für eine Bagatelle. Der Täter ist der Böse. Derjenige, der zusieht und nicht eingreift … nun, der verhält sich vielleicht nicht ganz korrekt. Aber mit dem Täter ist er natürlich auch nicht gleichzusetzen. Und deshalb geht man oft über ihn hinweg. Man hat irgendwo sogar Verständnis. Schließlich, wenn man ehrlich ist, weiß man ja nicht genau, wie man selbst an seiner Stelle gehandelt hätte.
Sie stand auf, griff mit beiden Händen das Tischbein. Sie bemühte sich, ihre ganze verbliebene Kraft in diesen ersten Schlag zu legen. Sie holte aus und ließ das Holz mit Wucht gegen die Fensterläden krachen. Nichts bewegte sich.
Gillian hielt inne, schöpfte neue Kraft. Jetzt noch einmal. Gib alles, Gillian! Komm, los! Du schaffst das. Du musst das schaffen!
Der nächste kräftige Schlag.
Sie vernahm ein Knirschen. Womöglich hatte sich auch etwas bewegt, aber sie war nicht sicher.
Natürlich gehört ein Täter bestraft und weggesperrt. Aber meistens handelt es sich um jemanden mit einer Riesenmacke, und man gewinnt den Eindruck, er hatte nie so richtig eine Chance, sie in den Griff zu kriegen. Die Lebensläufe dieser Menschen, speziell der Teil, in dem es um ihre Kindheit geht, lesen sich oft wie Horrorberichte. Ich bin weit davon entfernt, irgendjemandem zuzugestehen, dass er zum Massenmörder wird, weil seine Mutter Alkoholikerin war und sein Vater ihn
Weitere Kostenlose Bücher