Beobachter
aufgelöst versucht hatte, ihr Veilchen am Auge abzudecken. Tara hatte sofort verstanden, was los war; sie hätte es sogar dann gewusst, wenn sie die Verletzung nicht gesehen hätte. Gewaltopfer erkennen einander. Auch dann, wenn sie äußerlich völlig unbeschädigt wirken. Es ist etwas in ihrer Aura. Die erlebte Gewalt liegt wie ein Mantel um ihre Schultern, hüllt sie ein, erdrückt sie. Liza Stanfords Martyrium hatte vor Tara gestanden wie ein schreiend rotes Ausrufezeichen.
»Aber warum hast du nicht sofort Ermittlungen gegen ihn eingeleitet?«, hatte Gillian gefragt.
Die Frage musste man ihr vielleicht verzeihen. Woher sollte sie irgendeine Ahnung haben?
» Sie muss ihn niedermachen, nicht ich. Sie muss ihn voller Lust und Kraft und Genugtuung vernichten. Nur so kann sie ins Leben zurückfinden.«
Gott, was hatte sie sich den Mund fusselig geredet, um Liza zu einer Anzeige zu bewegen. Zeig ihn an. Bring ihn in den Knast. Mach ihn fertig. Verdammt noch mal, zahl es ihm zurück! Zeig ihm, dass er sich mit der Falschen angelegt hat!
Leider war Liza das klassische Opfer. Angsterstarrt und unfähig, einen Entschluss zu fassen. Ich tu es, nein doch nicht, ich weiß nicht, ich habe Angst, was soll ich nur machen?
Sie hatte ihre ganze Leidensgeschichte vor Tara ausgebreitet, und es war etwas Seltsames geschehen: Indem sie Liza zu ihren Abgründen begleitete, schienen sich jene Türen zu öffnen, die Tara zum Schutz vor ihren eigenen Schrecken über Jahre so sorgfältig verschlossen gehalten hatte. Sie sprangen auf und offenbarten Bilder und Gefühle, von denen sie gehofft hatte, sie werde nie wieder mit ihnen konfrontiert sein. Irgendwann wusste sie kaum noch zu unterscheiden, wer von ihnen beiden wen an die Hand nahm und zu seinem persönlichen Grauen geleitete. Und während sie schier verzweifeln wollte über Lizas Zaudern, erkannte Tara, dass sie selbst um nichts besser war. Auch sie hatte sich vor dem Begleichen der Rechnung gedrückt, hatte den Müll in sich vergraben und gehofft, er werde nicht zu stinken beginnen. Jetzt bemerkte sie, wie viel Gift sich in ihr angesammelt hatte. Und dass da noch jemand auf sie wartete. Darauf, dass sie die Dinge in Ordnung brachte.
Nicht Ted Roslin. Der alte Drecksack, der sich eingeredet hatte, das Kind, das er missbrauchte, zu lieben , war längst gestorben, nach einer langen Leidenszeit, die ihm der Prostatakrebs und eine früh einsetzende Demenz eingebracht hatten.
Lucy Caine-Roslin. Ihre Mutter. Die Frau, die sie verraten hatte. Mit ihr hatte sie nichts geklärt, in all den Jahren nicht. Sie hatte sie ab und zu in Gorton besucht, hatte ihr mit einiger Zufriedenheit ihre beruflichen Erfolge hingeknallt. Die Universität. Die erstklassigen Examen. Die Arbeit als Anwältin in Manchester. Der Aufstieg bei der Staatsanwaltschaft in London. Ihr gutes Einkommen. Ihr Ansehen. Sie war in ihrem schicken Jaguar in der Reddish Lane vorgefahren und dort elegant gekleidet ausgestiegen, hatte mit allem Erreichten geprotzt und geglaubt, dadurch ihren Seelenfrieden zu finden. War dabei aber zu feige gewesen, anzusprechen, was geschehen war. Und deshalb hatte das mit dem Seelenfrieden auch nicht funktioniert.
Sie drehte sich auf dem schmalen Rücksitz, versuchte, eine etwas bequemere Position zu finden, was ihr nicht gelang. Sie dachte an den dunklen Novembertag, an dem sie wieder nach Manchester gefahren war.
Ein Wochenende. Liza war noch nicht daheim ausgezogen, aber die Situation zwischen ihr und Logan spitzte sich zu. Ihre ganze eigene Vergangenheit war wach geworden in Tara. Weil sie immerzu Lizas Geschichten hörte. Weil sie nichts mehr verdrängen konnte.
Es war schon dunkel gewesen, als sie vor ihrem Elternhaus ankam, und auch hinter den Fensterscheiben der Wohnung hatte sie kein Licht gesehen. Sie fürchtete, ihre Mutter könnte nicht daheim sein, obwohl das unwahrscheinlich war: Lucy hatte sich seit dem Tod ihres zweiten Ehemannes sehr zurückgezogen. Sie ging kaum noch aus, besuchte niemanden. Sie verließ das Haus nur, um für sich einzukaufen oder um einmal pro Woche zum Friedhof zu gehen und die Gräber ihrer Männer zu besuchen. Ansonsten verbrachte sie ihre Zeit damit, ihre Wohnung zu putzen, Liebesschnulzen im Fernsehen anzuschauen oder sich in bunten Illustrierten über die Vorkommnisse im Königshaus auf dem Laufenden zu halten. Sie wirkte nie unzufrieden und unglücklich. Sie, die als junge Frau geradezu durchgedreht war bei der Vorstellung, ohne Partner leben
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