Beobachter
Demenzkranken. Die langen Gänge, das hässliche Linoleum auf dem Fußboden. Den Anblick der großen Rollwagen, auf denen schon am Vormittag das Mittagessen zu den Zimmern geschoben wurde. Millie fand das Essen im Heim so grauenhaft, dass sie oftmals für den Rest des Tages auch zu Hause nichts mehr essen konnte, so sehr schlug ihr der Inhalt von Plastiktellern und Schnabeltassen auf den Magen. Das half ihr zumindest, schlank zu bleiben, und war vielleicht das einzig Gute an ihrem Beruf. Sie alterte im Zeitraffer, wie ihr schien, aber sie hatte wenigstens eine hübsche Figur. Manchmal drehte sie sich über eine Stunde lang vor ihrem Spiegel im Schlafzimmer hin und her, um sich davor zu bewahren, in eine Depression abzugleiten. Ihr Körper in engen Jeans und tief ausgeschnittenen Tops konnte ihr durchaus ein wenig gute Laune vermitteln.
Sie musste den Zug von Tilbury nach Thorpe Bay nehmen. Gavin und sie konnten sich nur ein Auto leisten, und meistens fuhr Gavin damit, weil er sonst noch früher hätte aufstehen müssen, um pünktlich seine Frühschicht zu beginnen. Millie ärgerte sich zutiefst über die Tatsache, dass Samson ein eigenes Auto besaß und dies auch noch meistens herumstehen ließ. Sie fragte sich, welcher Teufel ihre verstorbene Schwiegermutter geritten hatte, dass sie ihren Wagen an den Versager vererbt hatte. Gavin hatte ihr erklärt, dass seine Mutter eine sehr innige Beziehung zu Samson gehabt, dass sie immer geglaubt hatte, ihn ganz besonders umsorgen und beschützen zu müssen.
»Er war das Sorgenkind. Stets allein, stets in sich zurückgezogen. Egal was er anfing, es lief irgendwie nie richtig gut. Er war ein Tollpatsch und total kontaktgestört. Immer. Schon im Kindergarten. Als unsere Mutter starb, war es ihr quälendster Gedanke, was nun aus Samson werden sollte.«
In der Erinnerung an dieses Gespräch verzog Millie auch jetzt noch das Gesicht. Es war so ungerecht! Gavin hatte einen Beruf. Gavin hatte eine Frau. Gavin tickte ganz einfach normal. Und wer bekam das Auto? Sein kleiner Bruder, der jedem in seinem Umfeld nur auf die Nerven ging.
Die Bahn brauchte mal wieder ewig, und Millie musste den Gedanken daran, wie schnell sie mit einem Auto hätte zu Hause sein können, mit aller Gewalt zurückdrängen. Sie wäre sonst noch wütender geworden, und sie wusste, dass es diese Wut war, die ihr die tiefen Linien in das Gesicht grub und ihr diesen verbitterten Ausdruck verlieh.
Die Wut machte sie alt.
Sie trottete durch die Straßen zu ihrem Haus. Es war ein gutes Stück zu laufen vom Bahnhof aus. Abends und frühmorgens glitzerte und funkelte hier überall die Weihnachtsbeleuchtung in den Häusern, aber jetzt am Mittag herrschte die trostlose Atmosphäre eines bleiernen, nebligen Dezembertages. Im Herbst hatte das bunte Laub in den dicht bewachsenen Gärten rot und golden geglüht, aber inzwischen waren alle Äste kahl und hoben sich spitz und schwarz vor dem grauen Himmel ab. Der Nebel lastete jedoch nicht mehr so tief über dem Boden, vielleicht würde er sich bis zum Nachmittag lichten und tatsächlich noch ein paar Sonnenstrahlen Raum geben. Aber da es jetzt schon so früh dunkel wurde, hatte man nichts mehr davon. Millie zog die Schultern zusammen. Wenn sie Geld hätte, richtig Geld, dann würde sie auswandern. Irgendwohin, wo es immer warm und sonnig war.
Sie hatte die Frau, die ihr entgegenkam, nur unbewusst registriert, obwohl sie der einzige Mensch war, der sich außer ihr noch auf der Straße aufhielt, und so zuckte sie zusammen, als diese sie plötzlich ansprach.
»Entschuldigen Sie!« Eine helle Stimme. Ein wenig schrill. Verzweifelt.
»Ja?« Millie blieb stehen.
»Ich suche meinen Hund.« Die Frau hatte weit aufgerissene Augen, wirre Haare. Schweiß glänzte auf ihrer Nase, was darauf hindeutete, dass sie wohl schon lange in der Siedlung herumrannte. Ihr war warm. Sie wirkte aufgelöst. »Jazz. Ein Schäferhundmischling. Ziemlich groß und langhaarig. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?«
Millie mochte Hunde nicht besonders. »Nein. Ich bin eben erst mit dem Zug von Tilbury gekommen.«
»Er ist mir heute früh weggelaufen. Es war noch ziemlich dunkel, und … ich verstehe das nicht, er hat so etwas noch nie gemacht.«
Millie registrierte missvergnügt, dass die andere etwa ihr eigenes Alter hatte, dass sie aber selbst im Zustand der Verzweiflung wesentlich glatter, frischer und jünger aussah. Vermutlich hatte sie einen Beruf, der ihr Spaß machte.
»Ich habe keinen Hund
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