Beobachter
gesehen. Wenn mir etwas auffällt, kann ich mich ja bei Ihnen melden, Mrs …?«
»Miss Brown. Michelle Brown.« Die junge Frau holte ein Stück Papier und einen Stift aus ihrer Manteltasche, kritzelte ein paar Zahlen darauf. »Meine Telefonnummer. Bitte, wenn Sie … Er ist alles für mich, wissen Sie.«
Doch kein so ganz glückliches Leben, dachte Millie. Sie verstaute den Zettel, nickte Michelle zu und setzte ihren Weg fort. Unwahrscheinlich, dass ihr der Hund begegnen würde.
Samsons Auto stand in der Einfahrt. Er war morgens aus dem Haus gegangen, hatte aber wieder einmal seinen Wagen stehen gelassen. Sie hatte ihn einmal darauf angesprochen, und er hatte gesagt, ihm sei das Benzin zu teuer. Das war natürlich ein Argument. Besonders bei einem Arbeitslosen.
Sie schloss die Haustür auf. Sie vermutete, dass ihr Schwager nicht daheim war. Seit einigen Monaten ging er früh und kam spät, und im Grunde war ihr das nur recht. Aber zugleich stimmte es sie misstrauisch. Was, zum Teufel, tat er den ganzen Tag über?
Sie glaubte ihm nicht, dass er Arbeit suchte. Zumal dies nicht erforderlich gemacht hätte, sich von morgens bis abends außerhalb des Hauses aufzuhalten. Nach allem, was sie wusste, bedeutete Arbeitssuche vor allem, dass man sich die Finger an Bewerbungen wund schrieb. Samson saß zwar oft noch spät an seinem Computer, aber warum sollte er etwas in der Nacht erledigen, was er genauso gut am Tag hätte tun können? Und der nächste Punkt war: Wenn jemand Arbeit suchte und keine fand, dann ging das mit Absagen einher, die er kassierte. Schriftliche Absagen, die per Post zugestellt wurden. Manches mochte auch über E-Mail abgewickelt werden, aber nie im Leben alles. Und Millie war oft diejenige, die den Briefkasten leerte. Nichts, seit Monaten kam absolut nichts für Samson. Die eine oder andere Reklame vielleicht von irgendeiner Firma, bei der er in besseren Zeiten etwas bestellt hatte. Aber kein Brief, der auch nur im Entferntesten als ein Absageschreiben zu identifizieren gewesen wäre.
Sie schaute auf die Uhr. Viertel nach eins. In einer halben Stunde kam Gavin, dessen Schicht heute auch früh endete, zum Mittagessen. Aber sie hatte Zeit, sie konnte rasch etwas auftauen. Eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen von Samsons Anwesenheit im Haus war die, dass sie seit seiner Zeit als Angestellter bei dem Heimservice für Tiefkühlkost Rabatt auf Produkte der Firma bekamen.
Kurz entschlossen stieg sie die Treppe hinauf. Sie hatte schon einige Male in Samsons Zimmer herumgeschnüffelt, wenn er nicht da war, und sie hatte ihr Gewissen damit beruhigt, dass sie sich sagte, er sei schließlich eindeutig verrückt und es sei wichtig für Gavin und sie, ein paar nähere Informationen über ihn zu bekommen. Gavin war mit Samson zusammen aufgewachsen, sein Bruder war ihm vertraut. Er kannte es nicht anders und sah nicht, dass bei ihm eine riesige Schraube locker saß. Aber sie, Millie, hatte es vom ersten Moment an gespürt. Als Gavin ihr Samson vorgestellt hatte, war ihr erster instinktiver Gedanke gewesen: Bei dem Typ stimmt etwas nicht.
Und ihre Überzeugung, dass sie recht hatte, war seitdem mit jedem Jahr nur gewachsen.
Sie rief seinen Namen, aber als sie keine Antwort bekam, betrat sie entschlossen sein Zimmer. Obwohl sie den Raum seit Jahren kannte, schüttelte sie missmutig den Kopf. Es war das Zimmer eines Teenagers. Nicht das eines Mannes von Mitte dreißig.
Das schmale Bett, in dem er schon als kleiner Junge geschlafen hatte. Der Wimpel eines Fußballclubs darüber – obwohl Samson Millies Wissen nach niemals Fußball gespielt hatte. Im Regal Abenteuerbücher. Die geblümten Vorhänge am Fenster hatte seine Mutter genäht.
Das Zimmer war akribisch aufgeräumt. Nirgends ein Staubkorn. Die Überdecke des Bettes lag Kante auf Kante. Millie fragte sich, wie er das hinbekam. Sie hatte das bei ihrem und Gavins Bett versucht, aber nie war es ihr gelungen, diese Perfektion zu erreichen.
Sie schaute in die Regale, warf zwischendurch immer wieder einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Das Zimmer ging nach vorn zur Straße hinaus, sodass sie Samson sehen konnte, wenn er unerwartet zurückkehren sollte. Es stand jedoch zu erwarten, dass er wieder erst am Abend auftauchen würde.
Sie öffnete die Tür des Kleiderschranks. Der klassische Jugendzimmerschrank aus hellem Holz. Darin sauber gefaltet etliche Pullover, ein paar Hemden, Jeans. Alles brav und solide. Millie wunderte sich überhaupt nicht,
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