Beobachter
wo die Menschen lebten, die sie noch von früher kannte.
Sie hatte hin und her überlegt, in diesen Stunden, die nicht verstreichen wollten. Den ganzen Schmerz noch einmal durchlebt, in den sie unmittelbar nach Seans Tod gestürzt war. Die Entschlossenheit, mit der sie Einsamkeit und Angst niedergekämpft hatte. Sie hatte sich auch und vor allem des Versprechens entsonnen, das sie ihm und sich gegeben hatte in den ersten Minuten, nachdem er im Krankenhaus für immer eingeschlafen war: Ich mache weiter mit deinem Traum. Mit dem Haus, das du so geliebt hast. Mit den Obstbäumen und den verwunschenen Sommerabenden auf der Veranda und den schweigenden Nächten im Winter, wenn sich der ganze Wald mit Raureif überzieht. Ich lebe das alles für dich mit.
An diesem Morgen gab sie sich die Erlaubnis, ihr Versprechen zurückzuziehen.
Nicht nur, weil irgendein Irrer hier im Wald herumzog und für sie vielleicht zur Gefahr werden würde. Wer immer das war und was immer ihn umtrieb, er war nur der Auslöser für ihre Entscheidung.
Sie hatte eines begriffen in dieser Nacht: Sie lebte tatsächlich Seans Traum. Aber der hatte mit ihr nichts zu tun, nichts mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Lebensvorstellungen. Zu zweit hatte das Leben in diesem Haus seinen Reiz gehabt. Für einen alleinstehenden Menschen konnte es zu einem Albtraum werden.
Sie war müde, aber zugleich elektrisiert. Freudig. Erlöst.
Sie ging in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein, setzte ein Ei in den Eierkocher, nahm Toastbrot aus der Packung. Sie summte leise vor sich hin. Wenn sie in der Post gewesen war, würde sie einen Makler aufsuchen. Vielleicht konnte er sich schon in den nächsten Tagen alles hier ansehen und ihr sagen, mit welchem Kaufpreis sie etwa rechnen durfte. Und dann würde sie sich selbst in die Suche stürzen. Eine hübsche Drei-Zimmer-Wohnung mit einem großen Balkon, den sie bepflanzen konnte. In einem Haus mit anderen Menschen, mit denen man sich vielleicht anfreunden würde. Abends die Lichter der Stadt um sie herum. Sie merkte, dass ihr fast die Tränen kamen bei dem Gedanken daran, und ihr ging auf, wie schwer es ihr in Wahrheit geworden war, die Isolation, in der sie lebte, zu ertragen. Jetzt, da sie diesen Gedanken zum ersten Mal zuließ, begriff sie, wie unglücklich sie gewesen war. Wie sehr sie entgegen ihrer Träume gelebt hatte.
Sie summte leise vor sich hin.
Das Schönste war: Sie hatte den festen Eindruck, dass Sean ihr wohlwollend zunickte.
2
»Und?«, fragte Peter Fielder, als Christy in sein Zimmer trat. Es war noch früh am Morgen, und in den Büros und auf den Fluren der Met war noch nichts los. Peter kam gern vor Tau und Tag in das Präsidium. Er wurde dann nicht andauernd angesprochen und gestört und konnte eine Menge erledigen, ehe die übliche Hektik losging, die aus hin und her eilenden Mitarbeitern, pausenlos klingelnden Telefonen und unvermittelt angesetzten Konferenzen entstand.
Christy McMarrow war ähnlich gelagert, und wahrscheinlich, dachte Peter, machte sie diese Übereinstimmung in beruflichen Fragen zu einem so gut funktionierenden Team.
Sein »Und?« bezog sich auf die Gewissheit, dass Christy mit neuen Informationen zu ihm kam. Sie schaute niemals bloß auf einen Kaffee oder einen gemütlichen Plausch bei ihm vorbei.
Allerdings wirkte sie nicht gerade erfreut. Was immer sie herausgefunden hatte, es schien sie nicht in die Nähe eines Durchbruchs gebracht zu haben.
»Ich habe gestern mit zwei ehemaligen Kolleginnen von Carla Roberts gesprochen, die mit ihr in der Drogerie gearbeitet haben«, berichtete Christy. »Beide schildern Carla als eine nette, freundliche, allerdings auch äußerst zurückhaltende Frau. Sie soll ein eher verschlossener Mensch gewesen sein, jedoch immer hilfsbereit und warmherzig. Die beiden schließen aus, dass sie Feinde am Arbeitsplatz gehabt haben könnte. Ich werde trotzdem noch einmal mit dem Filialleiter sprechen, aber mein Instinkt sagt mir, dass wir an dieser Stelle nichts finden werden.«
»Hm«, machte Peter. »Noch etwas?«
»Ich bin das Adressbuch von Carla Roberts durchgegangen, aber es gibt kaum Einträge darin. Hauptsächlich sind die Kolleginnen aus der Drogerie notiert. Nach ihrem Fortgang dort scheint sie niemanden mehr aufgeschrieben zu haben. Entweder gab es keine neuen Bekanntschaften, oder sie hat sie zumindest nicht festgehalten. Ich habe noch eine Bekannte von früher ausfindig gemacht, aus der Zeit, als Carla noch verheiratet war.
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