Beobachter
Häuser zu blicken. In der Einsamkeit hier draußen bestand die Gefahr, dass Tag und Nacht, Schlafen und Wachen miteinander verschmolzen. Besonders in dieser dunklen Zeit vor Weihnachten.
Die vergangene Nacht hatte Anne im Wohnzimmer verbracht. In eine warme Decke eingewickelt, hatte sie in kleinen Schlucken eine heiße Milch getrunken und versucht, ihre aufgewühlten Nerven zu beruhigen. Sie war am Vorabend gegen halb elf ins Bett gegangen, hatte noch eine halbe Stunde lang gelesen und war dann rasch eingeschlafen, aber irgendwann war sie hochgeschreckt und hatte noch für den Bruchteil einer Sekunde einen Lichtschein über die Wände ihres Schlafzimmers gleiten sehen und das Brummen eines Automotors gehört; im nächsten Augenblick erstarb der Motor, verlosch das Licht.
Irgendwo da draußen in der kalten Winternacht stand ein Auto. Saß ein Mensch und … ja, was? Was sollte jemand tun auf dieser Lichtung weitab jeder menschlichen Siedlung? Ein einziges, in einer völligen Einöde befindliches Haus in einem Garten voller kahler Obstbäume beobachten? Warum?
Sie lag herzklopfend im Bett und hoffte, sie habe nur geträumt, aber sie wusste, dass es kein Traum gewesen war. Und auch keine Einbildung. Es war zu oft in der letzten Zeit geschehen. Sie musste anfangen, es ernst zu nehmen. Ohne die geringste Ahnung zu haben, worum es sich bei diesem Es handelte.
Die Leuchtziffern auf ihrem Radiowecker neben dem Bett hatten ihr gezeigt, dass es fast halb eins war.
Sie hatte sich schließlich aufgerafft und war ans Fenster getreten. Auch hier oben gab es Läden, aber die verschloss sie nie. Sie bewegte sich vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, spähte hinaus. Ein schwacher Mondschein hinter den Wolken. Sie konnte nichts erkennen, kein Auto, keinen Menschen. Aber sie wusste, dass da jemand war. Atmete, wartete.
Für einen Moment hatte sie überlegt, die Polizei anzurufen. Ich wohne mitten im Wald. In einem ehemaligen Forsthaus. Mit dem Wagen vielleicht zehn Minuten entfernt von Tunbridge Wells. Draußen steht ein Auto. Ich glaube, dass jemand mein Haus beobachtet. Das geht seit einigen Wochen so. Ich sehe den Lichtschein, wenn sich das Auto nähert. Über einen holprigen Waldweg, denn etwas anderes gibt es hier nicht. Dann geht das Licht aus. Das Auto muss irgendwo stehen. Und ich weiß nicht, was der Fahrer will. Was er von mir will.
Ihre Hand hatte zweimal zum Telefonhörer gegriffen, war zweimal wieder zurückgezuckt. Sie fand, dass sich das alles wie die Spinnereien einer schrulligen alten Frau anhörte. Sie konnte sich den Eindruck vorstellen, den sie vermittelte: ältere Frau, kurz vor siebzig, wunderlich genug, um sich in eine gottverlassene Einöde zurückzuziehen. Verwitwet. Menschenscheu. Malt wilde, bunte Bilder. Und nun bildet sie sich Lichter ein. Und Motorengeräusche.
Sie hatte sich schließlich einen Jogginganzug angezogen und war nach unten gegangen. Im Erdgeschoss waren alle Läden fest verschlossen. Früher hatte Anne sie meist offen gelassen. Aber seitdem sich diese seltsamen Dinge ereigneten, wagte sie es nicht mehr.
Zumindest konnte sie von draußen niemand sehen. Sie knipste alle Lichter an, schaltete den Fernseher ein. Stimmen. Jemanden hören. Sich vergewissern, dass sie nicht allein war auf der Welt.
Sie machte sich die Milch heiß, wunderte sich, dass sie so heftig fror, und wickelte sich in eine Wolldecke. Schlafen würde sie nicht mehr können in dieser Nacht, das war ihr klar. Sie war wach und schaute abwechselnd an die Wand und in den Fernseher, während da draußen jemand saß und vermutlich ihr Haus anstarrte. Sie wusste, dass Lichtstreifen durch die Ritzen der Läden nach draußen fielen. Wer immer der geheimnisvolle Fremde war, er konnte sehen, dass sie wach war. Ob diese Tatsache allerdings irgendeine Bedeutung für ihn hatte, vermochte sie nicht zu sagen.
Am Morgen verlor der Albtraum seine scharfen Konturen. Anne hatte vor, in die Stadt zu fahren und ein paar Weihnachtspäckchen für alte Freunde zur Post zu bringen, und sie wusste, dass spätestens dann die tägliche Normalität die Schrecken der Nacht aufheben, sie fast irreal erscheinen lassen würde. Sie war jetzt froh, dass sie nicht die Polizei angerufen und sich lächerlich gemacht hatte. Und sie war sogar froh, dass es diese endlose Nacht gegeben hatte, denn sie hatte zu einer Entscheidung geführt: Anne würde das Haus verkaufen und nach London zurückkehren. Dorthin, wo sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Und
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