Beobachter
Frauen fast schlagartig derselbe Gedanke kam, der auch bei der Polizei längst offen ausgesprochen wurde: Dass Tom ein zufälliges Opfer geworden war. Dass der Täter seine Frau gemeint hatte. Fielder konnte diese Erkenntnis in Johns Augen förmlich lesen, und bei sich dachte er: Er ist entweder ein verdammt guter Schauspieler, oder er hat tatsächlich nichts damit zu tun.
John wandte sich an Gillian. »Gillian …«
»Ich weiß«, sagte Gillian. »Möglicherweise war ich gemeint. Ich bin eine Frau, und normalerweise wäre ich an jenem Abend allein zu Hause gewesen. Ich passe besser in die Reihe als Tom.«
»Mit aller Sicherheit wissen wir das natürlich nicht«, sagte Peter Fielder, »aber es ist schon besser, wenn Sie eine Zeit lang hierbleiben. Auch dann, wenn Ihr Haus freigegeben ist.« Abrupt wandte er sich wieder an John: »Woher wusstest du, dass sich Mrs. Ward hier bei ihrer Freundin aufhält?«
»Ich habe ihm heute Morgen eine SMS geschickt«, erklärte Gillian, noch ehe John antworten konnte, »und ihn gebeten zu kommen. Direkt nach Toms … Tod wollte ich ihn nicht sehen, aber inzwischen …« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Es geht mir nicht besonders gut«, fügte sie leise hinzu, »und ich muss mich ständig zusammenreißen wegen Becky. Tara, meine Freundin, kümmert sich sehr fürsorglich um mich, aber ich denke immer, dass sie wahrscheinlich ein Problem damit hat, dass ich mich an jenem Abend mit John treffen wollte. Sie spricht das nicht aus, aber … in ihren Augen wäre es sicher besser gewesen, ich hätte Tom konsequent verlassen, wenn ich mit ihm nicht mehr glücklich war. Dauernd denke ich, dass sie insgeheim meint, dass eben nur Unglück und Schrecken dabei entstehen, wenn Menschen einander hintergehen und unehrlich zueinander sind.«
Sie schluckte. Ihr Gesicht zitterte in dem Bemühen, die Tränen zurückzuhalten.
John trat neben sie, legte den Arm um ihre Schultern. Über ihren Kopf hinweg sahen die beiden Männer sich an. Sie dachten beide dasselbe. Man musste kein Psychologe sein, um zu begreifen, dass Gillian genau die Gedanken in ihre Freundin projizierte, von denen in Wahrheit sie selbst rund um die Uhr gequält wurde: ihre fast unerträglichen Schuldgefühle.
»So dürfen Sie nicht denken«, bat Fielder. »Es geht hier absolut nicht darum, ob Sie sich Ihrem Mann gegenüber moralisch korrekt verhalten haben oder nicht. Es geht hier um einen skrupellosen Mörder, der es aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen, auch auf Ihre Familie abgesehen hatte, und wenn wir hier eine Schuldfrage klären, dann ausschließlich die, die diesen Menschen betrifft. Erwird hoffentlich irgendwann vor einem Richter stehen, Mrs. Ward, nicht Sie!«
Sie hatte sich ein paar Tränen von den Wangen gewischt, nun ließ sie die Hände sinken. Sie hatte die Kontrolle über sich zurückgewonnen. »Und Sie meinen, das könnte Samson Segal sein?«, fragte sie, auf das Thema zurückkommend, bei dem Johns Erscheinen sie unterbrochen hatte.
»Wer ist Samson Segal?«, fragte John sofort.
»Er wohnt bei uns in der Straße«, sagte Gillian, »und er … hat sich ein wenig merkwürdig verhalten. Tom war ziemlich wütend auf ihn.« Sie sah Peter Fielder an. »Wie sind Sie auf ihn gekommen?«
»Wir haben einen Hinweis bekommen«, sagte Fielder, »aber ich muss dazu sagen, dass wir absolut keine Ahnung haben, ob da irgendetwas dran ist. Was meinen Sie mit merkwürdig, Mrs. Ward? Und was meinten Sie vorhin genau, als Sie sagten, er habe vor Ihrem Haus herumgelungert ?«
»Irgendwann fiel uns auf, dass wir ihn praktisch jedes Mal sahen, wenn wir das Haus verließen oder nach vorne auf die Straße schauten. Er ging entweder gerade vorbei oder stand herum … Tom registrierte das noch vor mir. Auch Tara fiel es einmal auf, als sie mich besuchte. Nachdem die beiden mich darauf aufmerksam gemacht hatten, stellte auch ich fest, dass ich ziemlich häufig über ihn stolperte.« Sie zuckte die Schultern. »Aber ich empfand ihn nicht als Bedrohung. Er schien mir ein netter, schüchterner Mann zu sein. Ein harmloser Eigenbrötler.«
»Der Eindruck von Harmlosigkeit mag täuschen«, erklärte Fielder. »Ich habe schon Schwerverbrecher vor mir gehabt, die so harmlos wirkten, dass jede alte Großmutter ihnen ohne Vorbehalt ihr Sparbuch anvertraut hätte.«
»Kurz vor Weihnachten kam es zu einem Zwischenfall«, sagte Gillian. Sie berichtete von ihrem Treffen mit John, davon, dass sie und Tom spät nach Hause gekommen
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