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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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sich geweigert – angenommen, William hätte sich überhaupt auf einen so törichten Handel eingelassen, so wäre er solch einer Forderung doch auf keinen Fall nachgekommen –, aber Quinn fügte sich und ertrug die Kritteleien seines Bruders und seines Vaters, die ihre Arbeit an dem Zaun unterbrachen, den sie gerade reparierten, um ihnen zuzuschauen. Guck mal, murmelten sie. Ach du Scheiße .
    Als Quinn zu seinem Lager unter den Kiefern zurückkehrte, war er überzeugt, dass jemand seine Tasche durchwühlt hatte. Die schwarzen, röhrenförmigen Eingeweide seiner Gasmaske quollen aus seiner Provianttasche, und sein Regenmantel, den er zur Sicherheit an einen Ast gehängt hatte, lag im Staub. Doch es war nichts gestohlen. Seine Entlassungspapiere, sein Soldbuch, seine wenigen Kleidungsstücke: Alles war noch da. Ein Schauder überlief ihn. Er stand reglos da und rechnete damit, etwas im Wind zu hören oder wahrzunehmen, ein Wispern oder eine Bewegung, die ihn auf einen unwillkommenen Gast aufmerksam machen konnten. Er zog seinen Revolver und suchte die nähere Umgebung ab, blieb hier und da stehen und betrachtete einen zerbrochenen Zweig oder einen eventuellen Fußabdruck. Doch er fand nichts und kehrte zum Lager zurück, um ein Feuer anzuzünden.
    Im Krieg hatte er von Soldaten gehört, die von der Gewissheit in den Wahnsinn getrieben wurden, dass ein feindlicher Scharfschütze sie im Visier hatte – wieso, konnte niemand sagen –, und diese Verrückten verwendeten wertvolle Energie darauf, blitzschnell durch die Schützengräben und über Lattenroste zu rennen, in der Hoffnung, der Kugel zu entrinnen, die vermeintlich für sie bestimmt war. Jetzt verstand Quinn dieses Gefühl. Immer wieder drehte er sich in der Erwartung um, plötzlich den bedrohlichen Schatten des Trottels Edward Fitch zu sehen oder, noch schlimmer, seinen eigenen Vater und seinen Onkel, die herkamen, um ihn aufzuknüpfen. Es war allgemein bekannt, dass es in dieser Gegend von der Wissenschaft noch unentdeckte Kreaturen gab, und als Kind hatte er im Schlamm am Fluss unbekannte Spuren und Pfotenabdrücke gesehen, die vielleicht von Wasserbabys, Froschmenschen oder behaarten Riesen stammten, jenen Wesen, die hinter dem Rücken Gottes erschaffen wurden. Die Eingeborenen behaupteten, dass in der Nähe ein Geschöpf lebe, das die Gestalt eines Menschen besitze, aber ganz rot sei und an den Finger- und Zehenspitzen Fortsätze habe, mit denen es seinen Opfern das Blut aussauge.
    Quinn horchte angestrengt. Er steckte sich den Finger in die Ohren. Nichts. Immer noch nichts.
    Die Ärzte hatten gesagt, seine Schwerhörigkeit sei auf die dröhnenden Sechzigpfünder zurückzuführen und sie könnten nicht viel für ihn tun. Der Gehörverlust gehe vorüber. Doch Quinn hatte manchmal das Gefühl, als würde ihm der Schlamm von den verdammten Schlachtfeldern Frankreichs für immer die Ohren verstopfen. Mal hörte er das Prasseln eines Buschbrandes, mal ein hohes Klagegeschrei. Im Lauf der letzten paar Monate hatte er sich an den Lärm gewöhnt, aber die relative Stille im australischen Hinterland machte ihn ihm nur bewusster, als würde der Krieg in seinem Kopf weitergehen. Seine Schwerhörigkeit ließ ihn die Geräusche seines eigenen Körpers, der unter der Haut unaufhörlich arbeitete, ganz deutlich wahrnehmen – das Quietschen der Halsgelenke, wenn er den Kopf drehte, sein stampfendes Herz, das Glucksen und Sirren seines Blutes. Dennoch hatte er Glück gehabt. Man hatte ihm von einem Burschen erzählt, der an ähnlichen Beschwerden litt, für den das Geräusch in seinen Ohren aber den ganzen Tag wie das Schnurren einer auf seiner Schulter sitzenden Katze klang. Doch es gab einen Ausgleich; er war überzeugt, dass sich sein Sehvermögen verbessert hatte, um seine geschädigten Sinne zu kompensieren, und glaubte, manches erkennen zu können, das andere nicht sahen. In London hatte er beispielsweise in größeren Menschenmengen Bekannte entdeckt, die seinen Begleitern unbemerkt blieben.
    Er setzte sich auf einen Baumstamm und starrte ins Feuer. Ein Funke schraubte sich in die Luft, wie ein Engel, der in den Himmel zurückgeholt wurde. Es war seltsam, allein zu sein. Im Krieg hatte er sich an das Gedränge vieler Körper, an den Geruch anderer Männer und ihre wispernden, angsterfüllten Herzen gewöhnt. Sie waren eine Gemeinschaft des Schreckens gewesen, in den Schützengräben kauernd, die Stirn an die Wälle gepresst, aus denen sie Erdkrümel pickten,

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